lebenswert macht, das ist auch in diesen Stunden des Wartens immer noch vorhanden.
Dann kommt der Anruf. Es ist ein sehr stilles Telefonat. »Okay«, sagt Mama. »Kommst du heim?« Mama sagt mir, was ich bereits weiß. »Der Krebs hat gestreut. Papa kann nicht mehr geheilt werden.«
Wir sitzen da. Und warten weiter. Warten auf Papa. Und können nichts mehr tun. Wir können ihm keine Hoffnung mehr machen. Jedes Wort der Hoffnung wäre ein Schlag in Papas Gesicht. Was wird jetzt noch zählen?
Eine Stunde später betritt mein Vater das Haus. Da steht er. Dem Tode geweiht. Er sieht so aus, wie er immer aussah, wenn er von unterwegs nach Hause kam. Nur ohne seine übliche Gehetztheit. Er wird von nun an nicht mehr gehetzt sein. Das weiß ich.
Papa sieht uns an.
»Ja …«, sagt er und zuckt leicht mit den Schultern. Einfach nur »Ja«. So, als würde er sagen: Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe.
Dann setzt er sich zwischen Mama und mich. Wir halten seine Hände. Mama links, ich rechts. Papa senkt den Kopf. Wir sprechen nicht, aber weinen viele Tränen.
Ich kann ihm nicht sagen, was ich fühle. Einige Stunden später nehme ich ein Blatt Papier zur Hand. Darauf notiere ich folgende Zeilen:
Du warst immer da,
großer, starker Mann.
Hast so laut gebrüllt,
wie nur ein Löwe brüllen kann.
Jetzt bist du schwach geworden,
klammerst dich an meine Hand.
Und Worte können nicht beschreiben,
was ich dir jetzt nicht sagen kann.
Von jetzt auf gleich hat deine Welt ihre Umlaufbahn verlassen.
Und du fliegst allein im freien Fall ins tiefe dunkle All.
Von jetzt auf gleich hat meine Welt ihre Umlaufbahn verlassen.
Und ich flieg allein im freien Fall ins tiefe dunkle All.
Und ich wollt, ich könnt dich tragen,
weit weg von Zeit und Raum.
Und könnt dir morgen einfach sagen:
»Das war alles nur ein Traum.«
Und ich wollt, ich könnt dich tragen,
weit weg von Zeit und Raum.
Und könnt dir morgen einfach sagen:
»Das war alles nur ein böser Traum.«
Klagelied
Jede Zelle, sie liegt brach.
Ich höre Lachen, Gläser klingen.
Irgendwo, hier, unten, da,
Schaumblasen, die nach oben schwingen.
Mit Kraft in meinem Bein – der letzten –
werde ich jetzt Anlauf nehmen.
Die Straßen hier werd ich besetzen,
und fest und starr, da werd ich stehen.
Und jedes Fahrzeug werd ich stoppen.
Die Stecker eurer Töne ziehen.
Und zünden werd ich eine Wolke,
im Rauch, da werd ich niederknien.
Kein Weg, der führt vorbei an mir,
so, wie mir auch kein Ausweg blieb.
Wie eine Säule werd ich mahnen
mit nackten Füßen, leer geliebt.
Und hallen werden meine Worte
in euren lauen Sommern, nachts.
Und nur mit dem, was ich jetzt trage,
leg ich sie nieder – meine Klage.
Sei still für mich, werd leise Welt.
Bis du den Schleier hören kannst,
der flackert hier vor meinem Blick,
verdüstert, rau und ohne Glanz.
Wisst ihr denn nicht, was ich verlor?
Wisst ihr denn nicht, was hier jetzt fehlt?
Halt an, Welt, ihr da, haltet an.
Könnt ihr nicht sehen, was mich nachts quält?
Die tiefe Stimme meines Lebens,
die Wurzel meines rechten Beins,
der linke Flügel – eine Richtung,
die ich verloren hab – so scheint’s.
Die Arme, die mich hielten,
die ersten, Schritt für Schritt.
Ein Boden – doppelt – für mein Herz,
hab mich getraut. Es bleibt nichts. Schmerz.
Die stille Wand in meinem Rücken,
der Windhauch, der jetzt weiter muss.
Die Hilfe, die ich manchmal nahm
und die ich gab, bis ganz zum Schluss.
Ein kleines Lächeln, strenge Töne,
mich schlafend tragend – starker Arm.
Nichts kann’s ersetzen, nichts mir geben
die Güte, die ich hier bekam.
Kein Weg, der führt vorbei an mir,
so, wie mir auch kein Ausweg blieb.
Wie eine Säule werd ich mahnen,
mit nackten Füßen, leer geliebt.
Und hallen werden meine Worte
in euren lauen Sommern, nachts.
Und nur mit dem, was ich jetzt trage,
versiegt sie langsam – meine Klage.
Milch und Honig
Sartre sagte, dass die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Entweder war Sartre ignorant, oder er vergaß zu erwähnen, dass die Erinnerung gleichermaßen eine ultimative Hölle sein kann, aus der wir partout nicht entfliehen können. Wenn ich morgens aufwache, bleiben mir ungefähr 15 Sekunden. 15 Sekunden exquisiter Gedächtnisstörung. 15 Sekunden, in denen ich glaube, dass mein Leben das einer ganz normalen Berliner Endzwanzigerin ist, die sich höchstens – allerhöchstens – damit auseinandersetzen muss, dass ihr hundsgemeiner Freund sie verlassen hat. Aber nicht damit, dass ihr hundsgemeiner Freund sie verlassen hat, nachdem ihr Vater vor ihren Augen elendig und unwiderruflich zugrunde gegangen ist.
15 Sekunden wohlig warmer Amnesie. Wohlig warm wie Milch und Honig. Wusste dieser verdammte Sartre nicht, dass die Flüsse im Paradies mit Milch und Honig gefüllt waren?
Nach den 15 Sekunden Erinnerungs-Schonfrist knallt es dann. Ich höre sie schon kommen.
Eine schwere Eistruhe landet auf meinem Brustkorb und begräbt mich mit voller Wucht unter sich. Ich ächze, öffne die Augen und starre an die Decke.
»Ich hasse dich, Erinnerung. Ich hasse dich«, grummle ich, während ich versuche, mich unter der Last der tonnenschweren Erinnerungs-Eistruhe auf die Seite zu schieben. Ach, zwecklos. Es dauert mindestens 15 Minuten, bis ich es schaffen werde, mich aufzusetzen. Und dann, wenn ich mich aufgesetzt habe, wird es mindestens weitere 15 Minuten dauern, bis ich sie nach oben hieven kann. An manchen Tagen bleibe ich auch einfach paralysiert unter der Truhe liegen. Ohne mich zu bewegen, ohne zu essen und ohne etwas zu fühlen. Der Milchund-Honig-Moment stirbt jeden Morgen den Eistruhen-Tod.
Ich habe zehn Kilo verloren