Muriel Marondel

Lieber Tod, wir müssen reden


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Ein Mensch, der mit seiner Präsenz Räume ausfüllte, den alle Menschen mochten und der immer etwas Sinnvolles zu sagen hatte. Ich nannte ihn »das wandelnde Lexikon«. Bei »Wer wird Millionär?« wusste er fast immer die richtige Antwort, und er konnte bei Ausflügen stundenlang über die Geschichte der historischen Bauwerke erzählen, ob man es hören wollte oder nicht. Papa konnte alles reparieren, wirklich alles.

      Als Kinder gingen wir oft mit ihm in den Wald und sammelten Pilze. Er wusste natürlich immer, welche Sorte wir da gerade gefunden hatten, und wenn nicht, sah er in seinem schlauen Pilzbuch nach. Auf Papa war Verlass. Er liebte die Natur, und ich empfand ihn dort immer am ausgeglichensten. Meine Freunde zu Teenagerzeiten liebten ihn, auch weil sie ihr Marihuana in unserem Garten anbauen durften. »Dein Vater ist der Coolste«, sagten sie immer. Ein versonnenes »Ja« antwortete ich daraufhin und verstummte, so wie ich es immer tue, wenn etwas schmerzt, ich es aber nicht zugeben will.

      Denn das Leben mit ihm als Vater war nicht immer leicht. Es war eigentlich sehr oft nicht leicht. Er war trotz seines unermüdlichen Einsatzes, wenn es darum ging, seine Familie zu versorgen und ihr praktisch zur Seite zu stehen, auch ein Getriebener: ruhelos und ausweichend, manchmal cholerisch, wenn es emotional wurde. Als würde er es abwehren wollen, dass man in ihn hineinblicken konnte. Er arbeitete immer viel, und ich habe manchmal das Gefühl, dass ich ihn nie wirklich kennengelernt hatte. Väter fehlen oft, auch wenn sie da sind.

      Ich setze mich auf eine Parkbank, das Laufen macht mich schnell müde. Ich komme mir eingeschränkt vor. Es ist, als ob die Schwere meines Herzens auch auf meinen Körper übergegriffen hätte.

      Ich stelle mir vor, wie er als junger Mann, der gut und gern malte, in den Berliner Bars saß und trank und feierte und Geschichten erzählte und nicht richtig wusste, wer er war. Er hatte lange Haare und oft französische Freundinnen, deshalb sprach er ganz gut Französisch. Einmal spielte er in einer Szene in einem feministischen Film, der »Der subjektive Faktor« hieß, mit. Bis heute habe ich sie nicht gesehen. Momentan kann ich sowieso keine Bilder von Papa sehen. Ich halte es nicht aus, ohne bitterlich zu weinen. Ich frage mich, ob ich wusste, wer er war, wenn er selbst nicht wusste, wer er war. Was wusste ich eigentlich über ihn?

      Er war der Sohn einer Affäre der 50er-Jahre. Ein uneheliches Kind. Damals war das eine Schande. Seine Mutter gab ihn die ersten Jahre zu ihren Eltern an den Schliersee. Das waren seine Worte. Sie »gab ihn dorthin«, während sie in München als Dolmetscherin arbeitete. Sie sollte einen neuen Mann finden, glaube ich. Und das war leichter ohne Kind. Zumindest sollte die Tatsache, dass sie ein Kind mit einem Mann gezeugt hatte, den sie in einer Bar kennengelernt hatte, vertuscht werden.

      Seine Großmutter war eine stämmige, mütterliche Frau aus einer Hamburger Seemannsfamilie, sie trug oft einen Dutt und bayerische Trachten. Sein Großvater war ein Ingenieur aus Potsdam, er hatte meines Erachtens wirklich die buschigsten Augenbrauen der Welt und war zur damaligen Zeit Chefkonstrukteur bei BMW. Ein Mann, der viel geleistet hat. Zumindest habe ich das in seinem Wikipedia-Eintrag gelesen. Dort in den Bergen lebte mein Vater also in einer Villa mit Schwimmbad, hatte ein Kindermädchen, es gab einen Familienhund und viel Liebe. Von dieser Zeit sprach mein Vater gern.

      Seine Mutter blieb eine Besucherin. Irgendwann besuchte sie ihn nicht mehr allein, sondern mit einem Mann. Das sei sein Vater, hatte man ihm gesagt. Dass er das nie heimlich infrage gestellt hat, glaube ich bis heute nicht wirklich.

      Und so heiratete meine Großmutter, die ich selbst nie kennengelernt habe, da sie wie mein Vater mit 57 Jahren starb, diesen Mann. Und mein Vater wurde nach München geholt, in eine piefige Mietswohnung, und verweigerte die ersten Wochen aus Kummer um den Verlust seines bisherigen Lebens das Essen. Seine Mutter bekam zwei Kinder mit diesem Mann, der jetzt der Vater meines Vaters war. Ein Ingenieur aus Schlesien, den sie in ihrer Arbeitsstelle kennengelernt hatte. Er war ganz in Ordnung, aber katholisch und streng, und irgendwie war er immer etwas verklemmt. Meine Großmutter arbeitete dann nicht mehr, dafür trank sie. Immer mehr. Und mein Vater zog irgendwann als Jugendlicher in den Keller, wo er ein kleines Zimmerchen bewohnte. Dort hörte er gern Pink Floyd und kiffte zu viel. Manchmal nahm er mit seinen Freunden auch LSD. »Ich fühlte mich halt nie so richtig dazugehörig«, sagte er. Einmal wurde er von der Polizei festgenommen und einige Tage festgehalten, weil man ihn fälschlicherweise verdächtigt hatte, seine Schule angezündet zu haben. »Das war schon hart«, kommentierte Papa, und ich musste bei dieser Geschichte als Kind oft lachen, denn die BILD-Zeitung schrieb damals über ihn, und ich mochte meinen Vater in der Rolle des Verbrechers. Eigentlich hätte ich es noch besser gefunden, mein Vater hätte seine Schule tatsächlich angezündet. Heute finde ich es weniger lustig, wenn ein Jugendlicher, ohne einmal von seinen Eltern kontaktiert zu werden, tagelang unschuldig in Untersuchungshaft sitzt.

      Am wenigsten lustig fand ich den Moment, in dem Papa abermals festgenommen worden war, weil er mit seinen Freunden ein Auto aufgeknackt hatte. Seine Mutter kam ins Präsidium, und auf die Routinefrage, ob der Ingenieur aus Schlesien der Erzeuger meines Vaters sei, verneinte sie diese – ohne weitere Erklärung. So erfuhr mein Vater von seiner Herkunft.

      Seinen leiblichen Vater traf er mit Anfang 20, und sie hielten einige Zeit Kontakt. Eine richtige Vater-Sohn-Beziehung kam aber nicht zustande, und ich vermute, der Grund, warum mein Vater irgendwann Jura studierte, hatte mit der Tatsache zu tun, dass sein leiblicher Vater Staatsanwalt war. Dieser suchte den Kontakt zu Papa viele Jahre später wieder – und so traf auch ich ihn einige Male. Eng wurde die Beziehung nie. Zu seiner Beerdigung reisten wir trotzdem. Dort lernte mein Vater seine kleine Schwester, das andere Kind seines leiblichen Vaters, kennen, die er zwar schon einmal gesehen hatte, als sie noch ein Kind war, ihr aber nicht sagen durfte, dass er ihr Bruder ist. Bis zuletzt waren sie eng miteinander verbunden.

      Wie eine Seifenoper hört sich das an, denke ich. Das Leben meines Vaters war lange eine ganz schön dramatische Seifenoper.

      Mit 26 traf mein Vater meine Mutter, nicht in einer Berliner Bar, sondern im Auto einer Mitfahrgelegenheit, an dessen Steuer der beste Freund meines Vaters saß. Meine Mutter war vier Jahre älter als mein Vater und hatte bereits eine zehnjährige Tochter. Sie war eine schöne Fotografin mit blonden Locken und hellblauen Augen, die im damaligen Berliner Szenebezirk rund um den Schöneberger Winterfeldplatz einen Fotoladen betrieb. Sie verliebten sich Hals über Kopf ineinander, obwohl meine Mutter gerade die Rückfahrt von ihrer eigenen Hochzeitsfeier angetreten hatte. Tja, Rock ’n’ Roll.

      Meine Mutter ließ sich für meinen Vater scheiden, heiratete ihn, und sie bekamen ein Wunschkind, eine Tochter. Gemeinsam arbeiteten sie im Laden meiner Mutter, während mein Vater trotzdem versuchte, sein Jurastudium auf die Reihe zu bekommen.

      »Die schönste Zeit eigentlich. Es war sehr harmonisch«, erinnert sich meine zwölf Jahre ältere Halbschwester. Bis meine Mutter ein Jahr später noch einmal schwanger wurde. Mit mir. Papa wollte das nicht wirklich. Und er gab ihr das auch zu verstehen. Aber meine Mutter war von der Idee angetan, Berlin zu verlassen und ein neues Leben im ländlichen Bayern zu beginnen. Er stimmte zu. Nicht gern, glaube ich. Und er hat diesen plötzlichen Wandel in seinem Leben auch nie wirklich überwunden. Das vermute ich zumindest. Zunächst führte er sein Jurastudium weiter und begann zeitgleich, auf dem Bau zu arbeiten. Das Geld war knapp, und so gab er sein Studium irgendwann auf und gründete seine eigene Baufirma. Die lief gut, sie bekamen einige Jahre später eine weiteres Kind. Er malte nicht mehr. Papa wurde zum Arbeitstier und Vater von vier Töchtern. Und zu der Person, mit der ich aufgewachsen bin.

      Ich blicke zu den spielenden Kindern im Park, stoße einen tiefen Seufzer aus und halte meine Hand ins Sonnenlicht.

      Das weiß ich von Papas Geschichte. Eine Aneinanderreihung von Erlebnissen. Natürlich habe ich Tausende Erinnerungen an ihn. Viele Tausend schöne Erinnerungen. Erinnerungen, die mir wertvoll sind. Ich weiß eben nur nicht viel über das, was in ihm wirklich vorging. Ich weiß nicht, ob mein Gefühl, dass ich besonders um seine Liebe kämpfen musste, weil ich der Grund war, dass er sein Stadtleben hatte aufgeben müssen, real war – mein Gefühl, dass zwischen uns der stille Vorwurf stand, dass sein Leben glücklicher verlaufen wäre, hätte es mich nicht gegeben.

      Warum hatte ich es nicht noch einmal