Selbstmörder als die „Märtyrer Satans“.
Die weltlichen Strafgesetze lehnten sich im Mittelalter wiederum eng an die kirchlichen Vorgaben an. Kriege und Seuchen forderten in einem mittelalterlichen Europa ihren Tribut. Umso mehr war es ein Verbrechen an der Allgemeinheit, sich selbst zu töten. In den totalitären Staaten war dem einfachen Bürger fast jede Art der Selbstbestimmung genommen. Das bezog sich natürlich auch auf das Recht, sich selbst zu töten. Da waren sich Staat und Kirche einig.
Selbstmörder haben mit ihrem Verbrechen eine Sühne unmöglich werden lassen. Sie wurden exkommuniziert, hatten kein Anrecht auf ein kirchliches Begräbnis innerhalb der Friedhofmauern. Die Leichen wurden zum Galgen geschleppt, an den Füßen aufgehängt und zur öffentlichen Schändung und Schmähung freigegeben. Der Selbstmörder wurde posthum enteignet. Der Selbstmordversuch wurde, wenn gescheitert, vor Gericht gebracht. Der Angeklagte wurde dann nicht selten mit dem Tod bestraft. Wenn er Glück hatte, kam er „nur“ ins Zuchthaus oder wurde des Landes verwiesen.
Von einem Fall steht geschrieben, dass der Selbstmörder drei Tage hängen gelassen wurde, sein Leichnam wurde aus dem Fenster gestürzt, dann bekam er 25 Stockstreiche, wurde in acht Teile zerschnitten, jeder Teil wurde in Stroh gewickelt und verbrannt.33
Über eine Selbstmörderbestattung im Jahr 1608 in Knetzgau, Unterfranken:
„Eine 60jährige hatte sich erhängt. Die Erhängte wurde vom Strick geschnitten und oben vom Boden des Hauses in die Gasse geworfen. Dort blieb sie von Donnerstag früh bis Samstag spät Abend im November liegen. Später wurde sie fernab der Gemeinde vergraben. Hunde haben sie daraufhin ausgescharrt. Weil alle umliegenden Gemeinden sich weigerten, die Frau zu begraben, ließ der Freund der Erhängten ein Fass bringen, in das er den Leichnam ferschte, das Fass verschloss und in die Wasser des Mains warf.“34 Kirche, Staat und Gesellschaft ließen jahrhundertelang rohen Sadismus walten, wenn es um die Verurteilung und Behandlung eines Menschen ging, der sich selbst getötet oder dieses versucht hatte. Das Gedankengut, aus dem dieses abartige Verhalten erwuchs, war eine Mischung aus vorgegebener Moral von rigider, kirchlicher wie weltlicher Obrigkeit auf der einen Seite und aus Furcht und Unwissenheit des einfachen Volkes auf der anderen Seite. Eine verderbte Mixtur aus Glaube, Gesetz und Aberglaube. Das zeigen auch die Eintragungen im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“. Unter dem Stichwort „Selbstmörder“ steht:
„Die christliche Kirche, besonders Augustinus, bekämpften den Selbstmord, stellen ihn dem Morde gleich und stempeln ihn so zur Todsünde. Der Einfluß der Kirche machte sich nach und nach sowohl im Recht als auch in der Auffassung des Volkes geltend: Der Selbstmörder wird als Verbrecher behandelt, die Strafe wird am Leichnam vollzogen; er gerät in die Klasse der vorzeitig oder auf gewaltsame Art Verstorbenen, wird zum bösartigen Wiedergänger und darum mit allerlei Abwehrriten umgeben. (…)
Die Veranlassung zum Selbstmord wird schon von Augustin und Luther dem Teufel zugeschrieben. Auch nach dem (…) Volksglauben hilft der Teufel dabei; teuflisch ist wohl auch die schöne Musik, die einer zu hören glaubt, wenn er sich umbringen will. Gewisse Leute sind zum Selbstmord prädestiniert: Wer zwei Haarwirbel hat. (…)
Groß ist die Scheu vor der Leiche eines Selbstmörders. Früher wurde, wer einen Erhängten vom Strick losmachte, unehrlich. Man wagte die Leiche nicht zu berühren. Man gibt dem Gehängten eine Ohrfeige, bevor man ihn abschneidet, sonst dreht er einem den Hals um. Auch die Gegenstände, die zum Selbstmord dienten oder zum Begräbnis gebraucht werden, erhalten etwas Gefährliches, müssen beseitigt werden. Der Baum, woran sich einer hängte, verdorrt, der Balken muß ersetzt oder vernichtet werden. Bahre und Grabladen werden entzweigesägt und aufs Grab gelegt. Strick, Messer, ein Stück vom Balken müssen ihm mitgegeben werden.
Auch Geld erhält er mit, damit er nicht zurückkehre. Seine Habe behält etwas Unheimliches an sich; wer in seinem Bett schläft, wird geplagt; sein Bild schwitzt am Tage des Selbstmords. (…)
Weil der Selbstmörder als Wiedergänger gefürchtet wird, werden allerlei Abwehrmittel angewandt. In früherer Zeit suchte man den Toten durch Vernichtung, Entfernung oder andere an oder mit der Leiche vollzogene Maßnahmen unschädlich zu machen. Meist wurde es von Gerichts wegen als Strafe dem Toten auferlegt und als bloße Entehrung ausgelegt.
Im 16. Jahrhundert wurden Selbstmörder verbrannt. (…) Früher, schon im 14. Jahrhundert, ließ man die Leiche ‚rinnen‘, das heißt, sie wurde in ein Faß verschlossen und in ein fließendes Wasser geworfen. Die Gefahr wurde dadurch weggeschwemmt. (…) Seltener war Versenken in einem Sumpf (…) oder begraben an eine Flutgrenze am Strande. Der Tote wurde auch unschädlich gemacht durch Pfählen oder Köpfen. Beim Wegschaffen der Leiche war oft üblich, sie auf einer Kuhhaut zu schleifen. (…) Die Leichen wurden bis in neuere Zeit nicht durch die Tür hinausgetragen, sondern durch ein Loch in der Wand, durchs Fenster, durchs Dach oder unter der Schwelle durch hinausgeschafft. (…) Sie dürfen nicht durchs Friedhofstor geführt werden, sondern müssen verkehrt über die Mauer gehoben werden. Man führt sie auf Nebenwegen. Sie werden mit dem Gesicht nach unten in den Sarg gelegt; man trägt die Leiche mit dem Kopf voraus. Türschlösser werden verändert, Schwellen entfernt, Türen versetzt. Die Leiche wird nicht gewaschen und bekommt keine besonderen Kleider. (…)
Die Kirche strafte den Selbstmörder, indem sie ihre Teilnahme am Begräbnis verweigerte; Glockenläuten und Gesang fielen weg. Werden Selbstmörder mit kirchlichen Ehren bestattet, so kommen sie wieder. Begräbniszeiten waren Nacht, früher Morgen oder später Abend.
Kirchlicher Einfluß bestimmte auch den Begräbnisort; die Kirche verweigerte das Begräbnis in geweihter Erde, der weltliche Richter gebot Verscharren unter dem Galgen oder auf dem Schindanger, ‚Eselsbegräbnis’. Als gefährliche Wiedergänger wurden sie auch auf Kreuzwegen mit einem Pfahl durch den Leib verscharrt oder auch an der Gemeindegrenze, oder man wählte einen abgelegenen, wüsten Ort. Auf dem Friedhof duldete man sie nur ungern und gezwungen; man glaubte, die anderen Toten würfen sie wieder hinaus. Und wenn man sie aufnahm, so wies man ihnen eine besondere Ecke an der Mauer oder unter der Dachtraufe an. In Schottland gab man ihnen einen Platz, von wo sie nicht aufs Meer sehen konnten, weil das dem Fischfang geschadet hätte (…). Man will nicht neben einem Selbstmörder begraben werden; sein Grab wird nicht gepflegt, und es spukt an diesen Orten. Auch die Stelle, wo der Selbstmord geschehen, ist verflucht, bleibt unfruchtbar. (…)
Der Selbstmörder wird zum Wiedergänger, meist gefährlicher Art. Drum heißt es, die Leiche oder nur die Schuhe bleiben lange unverwest. Er muß schweben, als Spuk umgehen bis zur Zeit, wo sein natürlicher Tod erfolgt wäre. Die Seele eines Erhängten kommt weder in den Himmel noch in die Hölle; der Teufel erwischt sie nämlich nicht, weil er beim Munde auf sie lauert und sie durch den After entweicht. Der Selbstmörder schaut auch seinem eigenen Begräbnis zu; er muß Friedhofswache halten, bis der nächste kommt. Er spukt in seinem Hause, am Ort, wo man ihn verscharrt hat, oder am Ort, wo er die Tat begangen hat. Er verlegt anderen Toten den Weg zum Friedhof. Er muß wandern, ohne Ruhe zu finden; (…) Der Selbstmörder als Wiedergänger kann die Angehörigen plagen, ihnen Unglück schicken. Oft verwandeln sie sich in gespenstische Tiere oder andere Wesen; in Pommern gelten sie als die Hunde des Wôd; sie gehen als kopflose Gespenster, als Hunde, Ziegenböcke oder Irrlichter um. Sie spuken besonders in der Adventszeit.“35
Ein Spiegelbild der damaligen Zeit auch in Bezug auf den Selbstmörder lieferte Dante Alighieri (1265–1321) mit seiner „Divina Commedia“.
Dantes „Göttliche Komödie“ erzählt in der Ichform eine Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt. Das erste ist die Hölle. Das Reich Satans öffnet sich als gewaltiger, unterirdischer Trichter, der bis zum Mittelpunkt der Erde reicht. Die Hölle ist nach unten hin in neun Kreise unterteilt, die sich immer enger ziehen. Je tiefer die Reise führt, desto schwerer sind die Verbrechen und Sünden derer, die hier eingeschlossen sind. Die, die aktiv und bewusst gesündigt haben, finden sich in den drei untersten, dem siebten, achten und neunten Kreis.
Der siebte Kreis ist noch einmal in drei Stufen unterteilt. In der obersten Stufe, in einer von blutigen Wassern durchströmten, schrecklichen Schlucht, leiden die Tyrannen, Mörder und Straßenräuber. In der zweiten Stufe führt der Weg durch den finsteren Wald der Selbstmörder.