Tara Brach

Nach Hause kommen zu sich selbst


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Weisheit und unserem vollen Mitgefühl haben – allein das bewusste Bemühen um ein hilfsbereites, freundliches Verhalten wirkt sich auf unser Innenleben aus. Wir werden energetisch ausgeglichener und sind mehr im Frieden damit, wie wir mit dem Leben in uns und um uns herum umgehen.

      Die innere Verpflichtung, niemandem zu schaden, bedeutet jedoch nicht, dass wir uns geißeln sollten, wenn wir etwas Verletzendes gesagt oder einen über den Durst getrunken haben. Unsere innere Verpflichtung kann uns dann vielmehr anregen, inmitten unseres Tuns innezuhalten und zu bemerken, was gerade vor sich geht. Wenn wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auf diese Weise zu vertiefen, verbinden wir uns immer tiefer mit der uns innewohnenden Ehrfurcht vor dem Leben.

      ~ Lehren der Wahrheit: Die Wirklichkeit annehmen ~

      Vor etwa zwanzig Jahren fuhr ich mit einem Freund nach Süd-Virginia, um an einem Retreat des vietnamesischen Zen-Lehrers Thich Nhat Hanh teilzunehmen. Während der Schlusszeremonie forderte er uns auf, einen Partner auszuwählen – ich wandte mich meinem Freund zu – und uns voreinander zu verneigen. Dann wies er uns an, einander zu umarmen und dabei drei Mal bewusst und vollständig ein- und auszuatmen. Während des ersten Atemzugs sollten wir uns vergegenwärtigen: »Ich werde sterben«; während des zweiten Atemzugs: »Du wirst sterben«; und während des dritten Atemzugs: »Und uns bleiben nur diese kostbaren Augenblicke.« Nachdem wir uns langsam aus der Umarmung gelöst hatten, sahen mein Freund und ich uns durch Tränenschleier in die Augen. Thich Nhat Hanh hatte uns auf wundervolle Weise zur Zuflucht der Wahrheit geführt.

      Es ist nicht so leicht, uns den Realitäten unserer Existenz zu stellen und sie anzunehmen. Wir sind zutiefst darauf konditioniert, uns vor Schmerz zu schützen und uns an jede Hoffnung zu klammern, die uns Sicherheit und Annehmlichkeiten verspricht. Aus diesem Grund verharrte auch mein Freund Paul zwei Jahrzehnte lang in einer konfliktreichen Ehe. Paul war ein extrovertierter Mensch, der in der Gesellschaft anderer aufblühte und der sich von seiner Frau Karen »ausgegrenzt« fühlte. »Sie zog sich lieber mit unserer Katze und ihren Gedichten zurück, als Zeit mit mir zu verbringen«, klagte er. In seiner Verletztheit und seinem Ärger warf er ihr vor, ihn emotional zu vernachlässigen, sich nicht um ihn zu kümmern, nicht für ihn da zu sein. Sie reagierte darauf mit noch mehr Rückzug.

      An einem Wochenende, das Karen bei ihrer gemeinsamen erwachsenen Tochter verbrachte, hatte Paul eine verblüffende Erkenntnis. »Woche um Woche, Jahr um Jahr war ich immer davon ausgegangen, dass sie anders sein sollte, dass unsere Beziehung anders sein sollte … Aber Karen ist einfach so, wie sie ist.« Ihm wurde bewusst, dass er seinen Traum von Nähe und Intimität mit Karen nie erreichen würde. Je mehr er sich seinem eigenen Schmerz und seiner Einsamkeit unmittelbar öffnete, desto mehr konnte er Karen so akzeptieren, wie sie war. Die Spannung wich aus ihrer Beziehung, und sie fingen an, aufrichtiger, respektvoller und sorgsamer miteinander umzugehen. »Als wir uns entschieden, uns zu trennen, geschah dies nicht, weil wir miteinander im Streit lagen«, erklärte mir Paul. »Es geschah, weil wir aufrichtig waren …, weil wir akzeptierten, wie es war.« Und dann fügte er wehmütig hinzu: »Es ist traurig, zu erkennen, wie unser Bestreben, der andere möge anders sein, unsere Liebe jahrelang verdeckte.«

      Wenn wir durch das Tor der Wahrheit gehen, beginnen wir mit der Erkenntnis dessen, was wirklich ist, und streben danach, es anzunehmen. Dieses Annehmen bedeutet nicht passive Resignation, sondern ein mutiges Sich-Einlassen auf die Realität unserer Erfahrung. Vielleicht gefällt uns nicht, was wir dabei entdecken, aber wir können es mit mitfühlender Präsenz umfangen. Je mehr wir in dieser Präsenz ruhen, desto heller und klarer wird unsere Aufmerksamkeit. Dann sehen wir das, was jenseits des wechselhaften Spiels der Gedanken, Gefühle und Empfindungen liegt, und entdecken unsere innere Zuflucht – jene wache Offenheit und Feinfühligkeit, in die jede Erfahrung eingebettet ist.

      Das Tor der Liebe

      Teil einer bewussten Gemeinschaft zu sein, ist eine wunderbare äußere Zuflucht und ein kraftvoller Weg zu wahrer Geborgenheit. In der buddhistischen Tradition bezog sich das Wort Sangha ursprünglich auf die Gemeinde der Mönche und Nonnen, die dem Weg des Buddha folgten. Heutzutage verstehen wir hier im Westen Sangha oft in einem umfassenderen Sinn. Der wesentliche Unterschied zwischen einem Sangha oder einer bewussten Gemeinschaft und anderen sozialen Organisationen ist die hingebungsvolle Verpflichtung zu bestimmten gemeinsamen Werten und Praktiken oder Ritualen, die dem spirituellen Erwachen dienen. Zu den bekanntesten Sanghas unserer Kultur gehören die Zwölf-Schritte-Gruppen, in denen sich die Mitglieder gegenseitig darin unterstützen, sich von Süchten und Abhängigkeiten zu befreien und ihre Lebensqualität zu verbessern.

      Alle Religionen und Glaubensrichtungen haben ihre eigenen Formen solcher spirituellen Gemeinschaften, aber man braucht keinen formellen Zutritt zu einem Glauben, um diese Art der Zugehörigkeit zu erfahren. Unserer Meditationsgemeinschaft gehören Anhänger vieler verschiedener Traditionen und auch ausgesprochen säkulare Menschen an. In ihrem weiteren Umfeld haben sich über fünfundzwanzig kleinere Gruppierungen gebildet, sogenannte Kalyana Mitta oder spirituelle Freundeskreise, die gemeinsam erforschen, wie sie die Lehren in ihrem täglichen Leben umsetzen können. Diese Gruppen stehen jedem offen, der daran interessiert ist. Andere haben sich mit Menschen zusammengetan, die ähnliche Merkmale aufweisen wie sie selbst – Jugendliche und junge Erwachsene, Farbige, Menschen mit Suchtproblemen, Lesben, Schwule und Zweifelnde.

      Natürlich können wir die Vorzüge eines Sangha auch genießen, wenn wir nicht Teil einer spirituellen Gruppierung sind. Häufig erfahren wir gerade in der Familie oder im Freundeskreis ständige Herausforderungen und tiefes Erwachen. Unsere Herzen öffnen sich weit, wenn wir Geburten oder Hochzeiten feiern, den Verlust lieber Menschen betrauern, uns für ein Festmahl versammeln, anderen eine schwierige Wahrheit anvertrauen oder einander in Zeiten der Krankheit und des Stresses helfen. In der unmittelbaren Nähe, die in diesen Momenten entsteht, erhaschen wir eine Ahnung davon, wer wir jenseits der Trance des kleinen Selbst sind.

      Die Zuflucht der Liebe wird für mich immer wieder auf ergreifende und einfache Weise lebendig. Ich erlebe sie, wenn ich einem Freund oder einer Freundin im Schmerz still beistehe, wenn mein Mann Jonathan mich und meinen Computer sicher durch ein technologisches Minenfeld führt, wenn der Vorstand unserer Gemeinschaft tagt und einander auch dann respektvoll zuhört, wenn die Meinungen auseinandergehen. Ich erlebe sie, wenn ich an einem gemeinsamen Ziel mit anderen zusammenarbeite, sei es, um einen Text zu verfassen, ein Problem zu lösen, eine Mahlzeit zuzubereiten oder unserer Welt auf eine geringfügige, aber konkrete Art zu helfen. Mein »Ich«-Empfinden wird dabei lockerer und durchlässiger. Ich bin Teil von etwas Größerem, stehe nicht mehr im Bann des Schmerzes und der Angst vor Trennung.

      Menschen kommen oft mit der Erwartung in unsere Meditationsgemeinschaft, dass hier alle freundlich, rücksichtsvoll und großzügig seien. Schließlich sind wir ja eine spirituelle Gruppe! Wenn ihre Mitmeditierenden dann gedankenlose oder verurteilende Bemerkungen machen, darauf bestehen, »recht« zu haben, oder sich in Konflikte verwickeln, kommt es leicht zu Enttäuschungen. Und wenn sie immer wieder mit ihren eigenen Gefühlen der Verletztheit und mit ihnen vertrauten Arten der Verteidigung und des Auf-Distanz-Gehens konfrontiert werden, fühlen sie sich oft desillusioniert.

      Doch selbst wenn Gewohnheiten wie Schuldzuweisung oder Abwehr auftauchen, kann sich etwas zutiefst verändern, wenn die Betroffenen dem Geschehen mit hingebungsvoller Präsenz begegnen. Dann wird die Gemeinschaft zur Zuflucht – zu einem Ort wahren Erwachens.

      Charlie war in seinem letzten Collegejahr, als er zu mir zur Beratung kam. Seine Mutter hatte ihn vernachlässigt, sein Vater hatte ihn misshandelt. Als er der Selbsthilfegruppe der Anonymen Drogensüchtigen beitrat, fühlte er sich unfähig, darauf zu vertrauen, dass sein Wohl seinem Sponsor wirklich wichtig war oder dass die Mitglieder seiner Gruppe ihn wirklich dabeihaben wollten. Ich ermutigte Charlie, dranzubleiben und sich nicht nur der Abstinenz zu verpflichten, sondern sich auch ganz auf die Begegnung mit den anderen Teilnehmern des Programms einzulassen. Es brauchte viele Monate regelmäßiger Treffen, aber schließlich konnte Charlie spüren, dass er endlich eine richtige Familie gefunden hatte.

      Manche von uns haben immer wie Charlie im Abseits gestanden und auf die anderen geschaut. Andere brauchten das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, und waren aus diesem Grund nicht in der Lage, sich ihren Mitmenschen wirklich nahe zu fühlen.