Tara Brach

Nach Hause kommen zu sich selbst


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»buddhistische Weg« bezieht sich auf die Wahrheit davon, wie die Dinge wirklich sind. Wir können die Natur der Wirklichkeit erst verstehen, wenn wir aufhören, unsere Erfahrung kontrollieren zu wollen. Es gibt keinen Weg, zu erkennen, was vor sich geht, solange wir auf einer gewissen Ebene versuchen, das Unwetter zu ignorieren oder ihm auszuweichen. Während der letzten paar Tage des Retreats versuchte ich wieder und wieder, loszulassen, doch meine lang erprobte Strategie, um mich besser zu fühlen − wiederholtes Darüber-Nachdenken −, hinderte mich immer wieder daran. Ryôkans Worte verwiesen auf neue Möglichkeiten: Vielleicht konnte ich mich tatsächlich den Wellen anvertrauen. Vielleicht bestand der einzige Weg zu echtem Frieden darin, mich dem Leben zu öffnen, wie es eben war. Sonst hatte ich hinter meinen Bemühungen, alles im Griff zu behalten, ständig das bedrohliche Gefühl, dass hinter der nächsten Ecke etwas Schreckliches lauern könnte.

      Ich versuchte, mich den Gefühlswellen zu öffnen, aber meine alten Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ich spürte die Anspannung in meiner Brust, und schon machte ich mir wieder Sorgen über die neue Vorschule meines Sohnes, über die Fahrgemeinschaft und wie ich einen flexibleren Babysitter finden könnte. Dann ärgerte ich mich über mich selbst und verurteilte mich dafür, meine Retreatzeit zu »vergeuden«. Ganz allmählich begriff ich, wie krampfhaft zusammengezogen mein Herz war, wie sehr ich mich davor fürchtete, die Intensität des Lebens durch mich hindurchströmen zu lassen. Ich brauchte Hilfe, um mich »anzuvertrauen«.

      Jeden Nachmittag hatten die Lehrer die ganze Gruppe durch eine Herzensgüte-Meditation geführt. Ich beschloss, zu versuchen, diese Übung in meine persönliche Praxis einzubeziehen. In der klassischen Form besteht diese Meditation darin, liebevolle Gebete für uns selbst und in sich erweiternden Kreisen für andere Wesen auszusenden. Ich begann, mir selbst Gutes zu wünschen: »Möge ich glücklich und zufrieden sein. Möge ich glücklich und zufrieden sein.« Zuerst fühlte es sich wie eine oberflächliche mentale Übung an, aber schon bald änderte sich etwas. Mein Herz begann, es wirklich zu meinen, ich kümmerte mich um mein eigenes Leben, und das Bewusstsein dieser Fürsorge löste ein wenig von der Anspannung in meinem Herzen.

      Jetzt konnte ich mich leichter den Wellen der Angst und des Kummers hingeben und die vorüberziehenden Gedanken und Körperempfindungen − Druck und Schmerz − einfach in ihrem Kommen und Gehen wahrnehmen. Wenn die Sorgen, die mich gequält hatten, auftauchten, spürte ich, dass auch sie Wellen waren, hartnäckige Wellen, die mir schmerzhaft gegen die Brust schlugen. Doch indem ich keinen Widerstand leistete und die Wellen durch mich hindurchströmen ließ, stellte sich Entspannung ein. Statt gegen die stürmischen Brecher zu kämpfen, ruhte ich in einem Meer des Gewahrseins, welches alle Wellenbewegungen einbezog. Ich war in einem Heiligtum angekommen, das groß genug schien, alles aufzunehmen, was in meinem Leben vor sich ging.

      Natürliche Präsenz: Wach, offen und feinfühlend

      Präsenz ist kein exotischer Zustand, nach dem wir suchen oder den wir irgendwie erzeugen müssten. Ganz einfach ausgedrückt ist Präsenz das Empfinden von Wachheit, Offenheit und Feinfühligkeit, welches entsteht, wenn wir ganz bei unserer Erfahrung im Hier und Jetzt sind. Sie haben sicherlich schon Präsenz erlebt, auch wenn Sie es vielleicht nicht so genannt haben. Vielleicht haben Sie Präsenz erfahren, als Sie in einer lauen Sommernacht wach im Bett lagen und den Grillen lauschten. Oder als Sie allein durch den Wald gingen. Auch bei einer Geburt oder einem Sterben anwesend zu sein, kann einen in einen Zustand vollkommener Präsenz versetzen.

      Präsenz ist das Gewahrsein, welches uns von Natur aus innewohnt. Präsenz ist eine unmittelbare, körperliche Erfahrung, die durch die Sinne wahrgenommen wird. Die genauere Betrachtung einer Erfahrung von Präsenz offenbart die drei oben genannten Qualitäten:

      Wachheit heißt, dass wir uns dessen, was gerade geschieht, bewusst sind. Mit dieser Intelligenz erkennen wir den sich von Augenblick zu Augenblick ständig verändernden Fluss der Erfahrung – die Geräusche, die uns gerade umgeben, unsere Körperempfindungen, unsere Gedanken. Wachheit bezeichnet die »wissende« Qualität des Gewahrseins.

      Offenheit bezieht sich auf den Raum der Bewusstheit, in dem das Leben stattfindet. Diese Bewusstheit widerspricht unserer Erfahrung nicht und wertet sie auch nicht auf. Selbst wenn schmerzhafte Gefühle oder Gedanken ausgelöst wurden, erkennt sie einfach, was vor sich geht, und erlaubt unserem Gefühlsleben, so zu sein, wie es ist. Wie der Himmel, durch den das Wetter zieht, ist auch der offene Raum der Bewusstheit unabhängig von den wechselhaften Ausdrucksformen des durch uns hindurchziehenden Lebens. Doch dieses Gewahrsein verfügt über eine natürliche Sensibilität und einen Ausdruck von Wärme. Diese empfindsame Art der Zuwendung nenne ich Feinfühligkeit. Unsere warmherzige Feinfühligkeit ermöglicht es uns, auf all die Schönheit und all den Kummer, auf alles, was sich zeigt, mit Mitgefühl, Liebe und Staunen einzugehen.

      Wir können also von drei Qualitäten der Präsenz sprechen, doch letztlich sind sie untrennbar. Denken Sie an einen sonnendurchfluteten Himmel. Es ist unmöglich, das Licht des Himmels von dem Raum zu trennen, den es durchleuchtet; es ist unmöglich, die Wärme, die wir spüren, von dem Raum und dem Licht zu trennen. Licht, Raum und Wärme sind alles inniglich miteinander verwobene Ausdrucksformen eines Ganzen.

      Unsere Sehnsucht, ganz und aus unserem Sein heraus zu leben, ruft uns heim zu dieser natürlichen Gegenwärtigkeit. Unser Erkennen der Wahrheit erwächst aus der Klarheit der Präsenz. Liebe strömt aus der Empfänglichkeit der Präsenz. Lebendigkeit und Kreativität entfalten sich, wenn wir in der Offenheit der Präsenz sind. Alles, was uns kostbar ist, ist bereits hier, durch Gegenwärtigkeit. Jedes Mal, wenn wir nach Hilfe rufen, kann uns unsere Sehnsucht daran erinnern, uns unserer wahren Zuflucht zuzuwenden, der Heilung und Freiheit natürlicher Gegenwärtigkeit.

      Rückkehr zur Präsenz

      Nach jenem Retreat fuhr ich mit der Absicht zurück, jedes Mal, wenn ich mich gereizt, ängstlich und angespannt fühlte, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen. Eine Woche nach meiner Rückkehr bot sich die erste Gelegenheit, und ich nahm sie wahr. Mein Exmann rief mich an und teilte mir mit, er könne an diesem Abend nicht auf Narayan aufpassen. Das bedeutete, dass ich in kürzester Zeit einen Babysitter organisieren musste, um meine Klienten empfangen zu können. »Ich bringe hier das ganze Geld ins Haus, und dann kann ich mich nicht mal in dieser Hinsicht auf ihn verlassen!«, schimpfte mein Geist. »Schon wieder übernimmt er nicht seinen Anteil, schon wieder lässt er mich im Stich!«

      Doch am Ende jenes Tages setzte ich mich hin und nahm mir Zeit, mich den Bewertungen und den Schuldzuweisungen zuzuwenden, die in meinem Körper zu spüren waren, und meine Selbstgerechtigkeit ließ nach. Ich saß still da, während die beschuldigenden Gedanken und die Wogen des Ärgers kamen und gingen. Unter meinem Groll spürte ich die ängstliche Frage »Wie kann ich das alles schaffen?«. Und als ich diese untergründigen Wellen der Angst und Sorge durch mich hindurchlaufen ließ, eröffnete sich mir ein ruhiger, innerer Zustand, in dem ich mehr Spielraum und einen weiteren Horizont hatte. Natürlich wusste ich nicht, was die Zukunft bringen würde. Ich hatte nur den gegenwärtigen Augenblick, und dieser Augenblick war in Ordnung. Aus diesem Zustand heraus konnte ich spüren, wie schwierig es für meinen Exmann war, eine neue Wohnung zu finden, unsere Zeitpläne abzustimmen und sich auf tieferer Ebene auf eine völlig andere Zukunft, als er sich vorgestellt hatte, einzustellen. Das half mir, toleranter und freundlicher auf die Situation zu schauen.

      Zu anderen Zeiten tat ich mich schwerer damit, mich den Wellen anzuvertrauen, vor allem, wenn mein Ex und ich unterschiedliche Ansichten über Finanzen oder Sorgerechtsvereinbarungen hatten. Jedes Sich-Anvertrauen fühlte sich an, als würde ich damit zulassen, ausgenutzt zu werden. Ich erkannte, dass ich zunächst mich selbst mitfühlend annehmen und meine Fürsorge für mich selbst wirklich ernst nehmen musste. Dann konnte ich mir selbst meine wütendsten, gemeinsten Gedanken verzeihen. Allmählich entspannte sich mein Herz ein wenig, und ich konnte die schmerzhaften Strömungen der Wut und der Angst besser durch mich hindurchfließen lassen.

      Wie auf dem Retreat stellte sich dann in mir eine Verbindung mit einer weiten Präsenz ein, die das aktuelle Geschehen mit einbezog und mir ermöglichte, mein Leben mit mehr Weisheit zu betrachten. In dieser Gegenwärtigkeit ruhend, konnte ich anfangen, mir klarer meiner gesunden Bedürfnisse bewusst zu werden – nach einer fairen Aufteilung