Tara Brach

Nach Hause kommen zu sich selbst


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erkennen und bewusst und gütig zu sein. Als ich während des College Yoga kennenlernte, war ich überzeugt, eine Abkürzung gefunden zu haben, der Mensch zu werden, der ich sein wollte. Direkt nach meinem Abschluss zog ich in der Nähe von Boston in einen Ashram, eine Gemeinschaft, die dem Weg des Yoga verpflichtet war. Ich war überzeugt, dass dieser Weg mich mit entsprechendem Einsatz zu spiritueller Freiheit führen würde.

      Unsere Gemeinschaft folgte strengen Regeln. Wir standen vor Sonnenaufgang auf, nahmen eine kalte Dusche und verbrachten dann mehrere Stunden mit Yoga, Meditation, Singen und Beten. Wir arbeiteten auch hart und viel an dem Betreiben eines Yoga-Zentrums, eines vegetarischen Restaurants und eines Ladens am Harvard Square. Von hingebungsvollem Eifer erfüllt, stand ich oft sogar noch früher auf als meine Mit-Yogis oder setzte mich spätabends noch hin, um meine spirituelle Praxis zu vertiefen.

      Mein aufrichtiges spirituelles Streben hatte sich mit einer Überzeugung verknüpft, die in dieser und vielen ähnlichen spirituellen und religiösen Gemeinschaften verbreitet ist: Um glücklich und frei zu sein, müssen wir uns läutern, indem wir unsere Egos von aller Selbstsucht, Aggression und Unsicherheit befreien. Die durch sportliche Yoga-Übungen ausgelösten Hochgefühle und die Verzückung, die ich in Meditationen erlebte, waren mir Zeichen meines Fortschritts. Doch zu anderen Zeiten war ich mir meiner »Unreinheiten« schmerzlich bewusst, was mich motivierte, mich mit noch mehr Eifer in meine spirituellen Praktiken zu vertiefen.

      Solches Streben nach Vollkommenheit ist ein äußeres Zeichen für die Trance. Meine Trance wurde von der Überzeugung genährt, dass ich ein begrenztes, unzulängliches Selbst sei. Ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein, hatte ich viele Idealvorstellungen davon, wie ein spiritueller Mensch fühlen, aussehen und sich verhalten sollte. Ich hatte auch ein Ideal davon, wie ein »gesunder« weltlicher Mensch sein sollte. Ich prüfte mich regelmäßig, wie ich im Vergleich zu meiner Idealvorstellung dieses perfekten Selbst abschnitt. Natürlich empfand ich mich praktisch immer als unzulänglich – denn direkt unter der Oberfläche lauerten meine Selbstbezogenheit, meine unklaren Motive, mein Ehrgeiz und meine Bewertungen. Im Rückblick kann ich erkennen, wie die Mischung aus echtem spirituellem Bestreben und unbewusstem Perfektionismus für Verwirrung und Zündstoff sorgte. Ich kann erkennen, was Danna Faulds meinte, als sie schrieb: »Perfektion führt zu nichts als Schmerz.«

      Das Perfektions-Projekt bricht zusammen

      Die morgendliche Praxis im Ashram gab mir Energie und befreite mich vorübergehend von der Anspannung eines selbstzentrierten Fokus. Ich genoss es, mit meinen Freunden zu meditieren und zu singen, ich genoss das gemeinschaftliche Frühstück und die Fahrgemeinschaft. Dieses Wohlgefühl hielt oft stundenlang an, doch an einem Morgen geriet ich in eine tiefe Krise.

      Zu jenem Zeitpunkt war ich die Leiterin unseres Yoga-Zentrums, und wir waren spät dran, unsere wichtigste Veranstaltung im Jahr anzukündigen, bei der mehrere bekannte Yoga-Lehrer auftreten würden. An jenem Morgen kam der Leiter unserer Gemeinschaft verspätet und sichtlich erregt zu unserem wöchentlichen Mitarbeiter-Treffen. Ich fragte ihn, was los sei.

      »Was los ist?«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Schau dir das doch mal an!« Er warf die Flyer auf den Tisch, die ich für die Veranstaltung gemacht hatte, und ich sah sofort den Tippfehler in dicken, fetten Buchstaben vorne drauf: Es war das falsche Datum! Mir sank das Herz und ich spürte, wie mein Gesicht vor Peinlichkeit errötete. Wir hatten von diesem Flyer gerade 3000 Exemplare drucken lassen. Ich hatte es absolut vermasselt.

      Wir sprachen darüber, einen neuen Flyer zu erstellen, die Aussendung zu verschieben und welche anderen Wege es gäbe, den Fehler wieder auszubügeln. Mein Verstand arbeitete hart daran, das Problem zu lösen, doch die Last des Versagens lag mir wie ein Felsbrocken auf der Brust. Am Ende unserer Sitzung begann ich, mich zu entschuldigen: »Ich bin dafür verantwortlich«, sagte ich mit leiser, tonloser Stimme. »Und es tut mir echt leid …« Ich spürte, wie mich die anderen ansahen, und plötzlich blitzte Ärger in mir auf, und die Worte brachen aus mir hervor: »Aber es war echt ein Riesenberg Arbeit, mit dem ich ganz alleine dastand.« Ich spürte ein Brennen in den Augen, aber ich blinzelte die Tränen weg. »Es wäre schön gewesen, wenn jemand da gewesen wäre, um es noch mal Korrektur zu lesen. Vielleicht wäre das dann nicht passiert.«

      Den Rest der Woche versank ich in Selbstekel. Stunde um Stunde spulte mein Verstand alles ab, wo ich in letzter Zeit hinter meinen Ansprüchen zurückgeblieben war. Ich sah, wie ich log, um mich einer sozialen Verpflichtung zu entziehen, wie ich einer anderen Lehrerin gegenüber den Umfang meiner Yoga-Kurse übertrieb, wie ich einer anderen Freundin Klatsch und Tratsch weitererzählte, um mich als Insiderin zu zeigen. Statt mit Großzügigkeit und selbstlosem Dienen beschäftigte ich mich nur mit meinem eigenen spirituellen Fortschritt und meinem Bestreben, als Yoga-Lehrerin zu glänzen. Wieder einmal wurde ich mit dem konfrontiert, was ich an mir am wenigsten mochte: Unsicherheit und Selbstbezogenheit. Ich fühlte mich von allen um mich herum getrennt und in einem Selbst gefangen, das ich nicht sein wollte.

      Während jener schwierigen Tage wurde mir klar, dass ich, seit ich denken konnte, damit beschäftigt war, zu beweisen, dass ich okay bin, und mich zu vergewissern, dass ich Fortschritte mache. Als Studentin, als politische Aktivistin, als Yogini und als Lehrerin – überall führte ich Checklisten meiner Errungenschaften. In all diesen Rollen versuchte ich, einer gewissen Definition eines »guten Menschen« zu entsprechen – hilfsbereit, zugewandt, gute Zuhörerin, konstruktiv, vertrauenswürdig und in jeder Situation positiv. Ich widmete mich mit brennendem Eifer dem Yoga und der Meditation. Doch mein ganzes Gefühl von Kompetenz hatte sich durch einen einzigen Fehler aufgelöst, und mein ganzes Selbstbild als guter, spiritueller Mensch war durch einen Moment verärgerter Abwehr ausgelöscht worden. Trotz all meiner Selbstverbesserungs-Strategien war ich damit konfrontiert, dass ich mich als ein grundsätzlich mangelhaftes Selbst empfand.

      Das Raumanzug-Selbst ist das kleine Selbst

      Wenn ich anfange, von der Trance zu sprechen, meinen manche, dass jegliche Erfahrung des Selbst schlecht oder unspirituell sei und ausgemerzt oder transzendiert werden sollte. Damals im Ashram war das meine Überzeugung – mein Selbstverständnis und meine Unvollkommenheit waren unzertrennbar miteinander verbunden. Heute sehe ich das Raumanzug-Selbst als mein kleines Selbst, welches vielfach auch als »Ego« bezeichnet wird.

      Dem »Ego« haftet oft ein negativer Beigeschmack an, doch das kleine Selbst (oder Ego) ist ein natürlicher Bestandteil unserer Konditionierung und unbedingt notwendig, um sich im Leben zurechtzufinden. Es entsteht in allen Menschen aus einem »Ich«-Gefühl und umfasst alle mentalen Aktivitäten, die wir brauchen, um zu funktionieren. Dazu gehört auch das ängstliche, schützende Selbst, welches in manchen Traditionen als »Angst-Körper« bezeichnet wird. Und auch das verlangende Selbst gehört dazu, welches nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse nach Nahrung, Sex, Sicherheit und Respekt strebt.

      Doch dieses kleine Selbst ist nicht unser wahres Selbst – es umfasst nicht die Fülle dessen, wer wir sind. Anders gesagt: Wenn wir mit einem kleinen Selbst identifiziert sind, nehmen wir uns als einzelne Wellen wahr und erkennen nicht, dass wir aus Meer bestehen. Wenn wir uns unseres wahren Selbst als Meer bewusst werden, ist das uns vertraute Wellenmuster – unserer Ängste, Abwehrmechanismen, Vorlieben und Geschäftigkeit – immer noch ein Teil von uns, aber es definiert uns nicht mehr.

      Die Lehre des Buddha befasst sich in ihrem Kern mit genau dieser fehlgeleiteten Identität. Der Buddha erkannte, dass wir alle darauf konditioniert sind, an angenehmen oder vertrauten Erfahrungen festhalten zu wollen (was er »Begehren« oder »Anhaften« nannte) und unangenehme Erfahrungen abzulehnen (was er »Widerstand« oder »Ablehnung« nannte). Sowohl das Begehren als auch die Ablehnung verengen unser Verständnis dessen, was wir sind – sie verleiten uns, uns mit einer begrenzten, individuellen, isolierten Existenz zu identifizieren und daran anzuhaften.

      Diese fehlgeleitete Identifikation wird durch die Geschichten bestärkt, die wir uns erzählen. Wir glauben, wir seien die Stimme in unserem Kopf, wir glauben, wir seien der Hauptdarsteller unserer Geschichte, und wir glauben, unsere Sicht der Welt »da draußen« sei die Wirklichkeit. Vielleicht haben wir ein prall gefülltes, anstrengendes Leben. Vielleicht stellen die Arbeit, die Familie und Freunde mehr Anforderungen an uns, als wir meinen, erfüllen zu können. Vielleicht ist das die Zusammenfassung