Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie


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zu entwickeln, die in vielen Definitionen enthalten ist: die Fähigkeit, mehrere Perspektiven zu halten. In der buddhistischen Tradition geht dieses bewusste „Einnehmen von Perspektiven“ noch weiter, um Einsicht aus erster Hand zu gewinnen, wie der Geist aus dem ewig veränderlichen Strom der Erfahrung eine scheinbar stabile Realität konstruiert (siehe Kapitel 9).

      Bei unangenehmen Empfindungen bleiben

      Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unangenehme Gefühle und körperliche Empfindungen richten und uns für sie öffnen, hilft uns Achtsamkeitspraxis, das, was physisch und emotional unangenehm ist, zu tolerieren und anzunehmen (Germer et al., 2005; R. Siegel, 2011). Viele Definitionen von Weisheit weisen auf die Fähigkeit hin, zurückzutreten, dem Drang nach unmittelbarer persönlicher Bequemlichkeit zu widerstehen und im Interesse des größeren Guten zu handeln. Dies ist nur dann möglich, wenn wir über unsere instinktive Gewohnheit hinauskommen, nach allem zu streben, was persönlich angenehm ist, und Schmerz zu vermeiden. Genauso wie wir unsere Muskeln kräftigen, wenn wir im Fitnessstudio Gewichte heben, können wir mit der Zeit immer besser Schmerz und andere unangenehme Empfindungen ertragen, wenn wir Achtsamkeit üben. Diese Ausdauer wird sowohl dadurch gestärkt, dass man sieht, wie sich der Schmerz, so wie alle Dinge, von selbst verändert, wie auch dadurch, dass man sich nicht mit dem identifiziert, was unangenehm ist, d. h., dass man sich nicht persönlich für seine Ursache hält. Darüber im Folgenden mehr.

      Automatisches Reagieren beobachten und kontrollieren

      Wenn wir nicht achtsam sind, sind viele unserer Reaktionen impulsiv. Sie sind entweder instinktgeleitet, durch Belohnung und Strafe konditioniert oder man hat sich abgeschaut, wie man reagiert, das heißt, man folgt einem Modell. Achtsamkeitspraxis lehrt uns, Reiz-Reaktions-Prozesse aus mikroskopischer Nähe zu beobachten, sodass wir das Entstehen einer Sinnesempfindung, eines Gedankens oder eines Gefühls miterleben können, und wie darauf der Drang oder der Impuls zu reagieren folgt, und darauf schließlich das entsprechende sichtbare Verhalten. Statt automatisch diesen Ablauf auszuagieren, kann man mit Übung die Fähigkeit entwickeln, innezuhalten, Atem zu holen und einzuschätzen, ob die Handlung wirklich zu erwünschten Ergebnissen führen würde oder nicht. So kann Achtsamkeitspraxis helfen, die Fähigkeit für emotionale Regulierung zu entwickeln – Zurückhaltung, automatisch auf Affekte oder Impulse hin zu handeln –, was bei den meisten Definitionen von Weisheit eine herausragende Rolle spielt.

      Transpersonale Einsicht

      Eine Hauptfunktion von Achtsamkeit in der Tradition des alten buddhistischen Geistestrainings besteht darin, direkte Einsicht in anattā (siehe Kapitel 9 und 13) zu bekommen – die Nichtexistenz eines getrennten, stabilen Selbst oder einer getrennten stabilen Identität. Diese Einsicht ist mit der Einsicht in das verwandt, was spätere buddhistische Traditionen als shūnyatā oder Leere bezeichnen: die Beobachtung, dass alle wahrgenommenen Phänomene in wechselseitiger Abhängigkeit von allen anderen Phänomenen entstehen und dass ihre scheinbar getrennte Natur eine Konstruktion unseres konzeptuellen Denkens ist. Achtsamkeitsübungen helfen uns, diese wechselseitige Abhängigkeit zu sehen, indem sie sichtbar werden lassen, dass alle Erfahrung in beständigem Fluss ist, wobei unser Geist unablässig Begriffe erzeugt, um diesen Fluss zu dem zu organisieren, was wir für die konventionelle Realität halten. Wir nehmen wahr, dass wir, wie der Neurowissenschaftler Wolf Singer (2005) es formuliert, „ein Orchester ohne einen Dirigenten“ sind. Dieses Bewusstsein hilft uns nicht nur, Weisheit im buddhistischen Sinn zu entwickeln – Einsicht in die Art und Weise, wie die Dinge wirklich sind –, sondern es löst auch die Barriere zwischen „mir“ und „mein“ und „dir“ und „dein“ auf, was zu Mitgefühl, einem anderen Eckstein von Weisheit, führt.

      Beobachtung der Eigenheiten des Denkens von Moment zu Moment

      Während Achtsamkeitspraxis zu einer radikalen Neubewertung dessen führen kann, wer wir zu sein meinen, erhellt sie daneben gewöhnlich auch das, was von einem psychodynamischen Ansatz aus Abwehrmechanismen genannt wird. Wenn wir wahrnehmen, was wir in jedem einzelnen Moment denken, sehen wir, wie oft wir auf andere projizieren und wie schwer es ist, sie so zu sehen, wie sie sind. Wir nehmen wahr, wie wir in unserem Denken Klischees benutzen, bewerten, eifersüchtig konkurrieren, idealisieren, schlecht machen und alle möglichen anderen nicht so schönen Dinge tun, die zur menschlichen Natur gehören. Wenn wir diese innere Aktivität betrachten, ermöglicht uns das, über unsere Reaktionen auf die Dinge zu reflektieren, und wir können allmählich die introspektive innere Haltung und das Selbstverständnis entwickeln, die weitere Bestandteile von Weisheit sind.

      Sehen, wie das Denken Leiden erzeugt

      Achtsamkeitsübungen wurden auch entwickelt, um erkennen zu können, wie das Denken Leiden erzeugt und wie dieses Leiden erleichtert und überwunden werden kann (R. Siegel, 2011). Unser Denken ist permanent mit Vergleichen beschäftigt und wertet und strengt sich an, die Dinge „genau richtig“ zu machen und dann zu versuchen, sie daran zu hindern, sich zu verändern. Unsere Versuche, angenehme Augenblicke festzuhalten und unangenehme zu vermeiden oder zu verdrängen, scheitern unvermeidlich und führen zu endlosem Leid. Im einen Moment gewinnen wir, aber im nächsten Moment verlieren wir. Einsicht in diese Prozesse, die spontan bei der Achtsamkeitspraxis entstehen, vermittelt uns ein reiches Verständnis von der menschlichen Natur – eine Dimension von Weisheit, die für die therapeutische Praxis besonders wichtig ist.

      Gegensätze annehmen

      Wenn wir aus dem Gedankenstrom heraustreten und die Aktivität des Denkens von Moment zu Moment beobachten, sehen wir, dass unsere lieb gewonnenen Ansichten der Realität – „Ich bin schlau“, „Ich bin dumm“, „Ich bin freundlich“ – rein mentale Konstruktionen sind. Dieses Verständnis kann uns helfen, die Sichtweisen anderer eher zu tolerieren und kooperative Lösungen für Konflikte zu finden – beides sind häufig erwähnte Dimensionen von Weisheit.

      Achtsamkeit kann uns auch helfen, verschiedene Ebenen der Realität zugleich anzunehmen. Wir können ein Bewusstsein davon haben, was die buddhistische Psychologie als absolute Realität beschreibt: Leere und anattā (die wechselseitige Verbundenheit aller Phänomene und das Fehlen eines getrennten stabilen „Selbst“), anicca oder Vergänglichkeit (die Tatsache, dass alle Phänomene in ständigem Fluss sind) und dukkha oder Leiden (wie das Denken Leiden erzeugt, indem es an angenehmen Erfahrungen hängt und unangenehme vermeidet oder verdrängt). Zugleich können wir uns der konventionellen oder relativen Realität bewusst sein: der Tatsache, dass wir natürlich uns und unsere Nächsten schützen wollen; wir wollen gesund, sicher und geliebt sein; wir haben Angst vor dem Unbekannten; wir haben natürliche sexuelle und aggressive Triebe sowie alle anderen Tendenzen, die uns menschlich machen. Wir werden in diesem Buch immer wieder sehen, dass es besonders wichtig ist, diese beiden Ebenen anzunehmen, wenn man als Therapeut weise handeln möchte. Manchmal ist es für unsere Patienten wichtig, dass wir ihre gewöhnliche emotionale Erfahrung verstehen, und zu anderen Zeiten ist es für sie wichtig, dass wir das Gesamtbild sehen und verstehen, wie Denken Leiden erzeugt, indem es absolute Realität nicht wahrnimmt.

      Mitgefühl entwickeln

      Einige Definitionen von Weisheit schließen auch Mitgefühl mit anderen ein (Ardelt, 2004; Clayton, 1982; Meeks & Jeste, 2009). Umgekehrt gehört zu wirklich mitfühlendem Handeln auch Weisheit, damit man diejenigen, denen man zu helfen versucht, nicht unabsichtlich schädigt. Wie früher besprochen kann Achtsamkeitspraxis eine große Unterstützung sein, wenn man Mitgefühl kultivieren will, und zwar zum Teil, weil wahrnehmbar wird, wie verbunden wir miteinander sind. Wenn wir die Fähigkeit besitzen, inmitten allen Leidens Frieden zu empfinden, dann sehen wir, dass andere Menschen ebenfalls leiden, und wir empfinden spontan den Impuls, anderen zu helfen, so wie die rechte Hand der linken Hand hilft, wenn sie verletzt ist. Die Erfahrung wechselseitiger Verbundenheit und Empfinden von Mitgefühl sind fundamental untrennbar. Der indische Weise Atisha hat es im zehnten Jahrhundert so formuliert: „Das höchste Ziel der Lehren ist die Leere, deren Wesen Mitgefühl ist“ (Harderwijk, 2011).

      Andere wege zur weisheit

      Ein Aspekt von Weisheit entsteht nicht auf natürliche Weise aus Achtsamkeitspraxis: Das Wissen und die Erfahrung, die man braucht, um konkrete weltliche Probleme zu lösen. Es ist unwahrscheinlich, dass man lernt, ein Auto zu