Guttaten des Herrn sind noch nicht aus, ja, sie sind noch nicht zu Ende. Jeden Morgen neu ist sein Erbarmen, und groß ist seine Treue“ (Klagelieder, 3, 22–23; siehe auch Berlin, Brettler & Fishbane, 2004, S. 1596). Unsere religiösen Traditionen beschäftigen sich alle mit dem Problem menschlichen Leidens. In der Lehre des Buddhas ist Leiden „die erste Edle Wahrheit“, und er lehrte Mitgefühl als ein Mittel, persönlichen Schmerz zu lindern und friedliches Zusammenleben zu fördern.
In der westlichen philosophischen Tradition war Aristoteles der Erste, der Mitgefühl untersucht hat (als „Mitleid“) (Cassell, 2005). Andere Philosophen nach ihm waren im Hinblick auf Emotionen zurückhaltend, wie zum Beispiel Kant und Nietzsche. Sie warnten, Gefühle wie Mitgefühl könnten eine Gefahr für die Vernunft sein und sollten unterdrückt werden (Nussbaum, 1996, 2001). Andere westliche Denker aber wie Hobbes (1651/2012), Hume (1888/2007) und Schopenhauer (1844/2009) erkannten den Wert, der darin liegt, sich mit anderen zu identifizieren oder sich an ihre Stelle zu versetzen (siehe Pommier, 2010).
Vielleicht entmutigte die enge Assoziation von Mitgefühl mit Religion die junge Wissenschaft der Psychologie, es gründlicher zu erforschen. Nichtsdestoweniger findet sich Mitgefühl eingebettet in die vertrauten therapeutischen Konzepte der Empathie, des therapeutischen Bündnisses, der bedingungslosen positiven Wertschätzung und der Akzeptanz.
In ihrem historischen Überblick über „Akzeptanz“ in der Psychologie sehen John Williams und Steven Lynn (2010) den historischen Buddha als den Ersten, der sich mit Bedacht über den Begriff geäußert hat. Der Buddha war der Überzeugung, dass menschliches Leiden vor allem aus dem Wunsch und dem Verlangen entsteht, die Erfahrung von Moment zu Moment sei anders als sie ist (d. h. Nichtakzeptanz). Er meinte, um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollte man Gierlosigkeit, Hasslosigkeit, Achtsamkeit, Mitgefühl, Weisheit und eine Menge anderer mentaler Faktoren kultivieren, um Leiden zu mindern bzw. zu überwinden (siehe Kapitel 4 und 9).
Ein Interesse an Akzeptanz, besonders an Akzeptanz des eigenen „Selbst“ und des „anderen“ gibt es auf dem Gebiet der Psychotherapie seit über einem Jahrhundert. William James, Sigmund Freud und B. F. Skinner betrachteten Akzeptanz als psychologisch nützlich. Carl Rogers (1951) und andere humanistische und existenzialistische Therapeuten erhoben Akzeptanz in den Status eines zentralen Veränderungsprozesses. Interessanterweise betrachteten sowohl Freud (1913/1957) als auch Rogers Selbstakzeptanz als einen Vorläufer von Akzeptanz von anderen, und diese Sicht wurde bis weit in die 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts zu einem Fokus empirischer Untersuchungen. In den 1990er Jahren verschob die Forschung ihren Schwerpunkt dann mit der Einführung achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Behandlungsformen, die vom Buddhismus inspiriert waren, zu der Akzeptanz von Erfahrung von Moment zu Moment (Kabat-Zinn, 2011; Linehan, 1996; Segal et al., 2002).
Die Erforschung von Mitgefühl und Weisheit scheint der nächste Schritt in der Konvergenz buddhistischer Psychologie und moderner Psychotherapie zu sein. Bekannte Themen werden neu untersucht und neue Gebiete eröffnet:
• Selbstmitgefühl erscheint als eine neue Form von Selbstakzeptanz.
• Mitgefühl wird als eine Form der Empathie erforscht, die Regulierung von Leiden mit gutem Willen betont.
• Erschöpfung von Mitgefühl (compassion fatigue) wird als das verstanden, was passiert, wenn man Empathie ohne Selbstmitgefühl und Gleichmut hat.
• Mitgefühlsorientierte Therapie wird als ein expliziter Versuch entwickelt, die Fähigkeit zu Mitgefühl zu wecken und zu üben, um emotionales Leiden zu bewältigen.
• Studien des Gehirns zeigen, dass innere Zustände des Mitgefühls eine verbesserte tiefe Empfindsamkeit für den Schmerz anderer einschließen.
Diese Themen und viele andere werden in diesem Buch besprochen.
Ist Mitgefühl angeboren?
Man kann sagen, dass wir physisch nicht nur für Kampf oder Flucht, sondern auch für Mitgefühl ausgestattet sind. Unsere primitiven, der Selbsterhaltung dienenden Instinkte werden sehr schnell und automatisch angesprochen, aber wir sind von Natur aus auch kooperativ und altruistisch (Keltner, 2009; Sussman & Cloninger, 2011). Und wie alle mentalen Gewohnheiten kann auch unser Instinkt für Mitgefühl durch Übung gestärkt werden. Hinweise darauf, dass Mitgefühl angeboren ist, liefern die Evolutionsforschung und die neurobiologische Forschung.
Evolution
Im Gegensatz zur populären Überzeugung betrachtete Charles Darwin Sympathie als den stärksten unserer Instinkte, wie seine Bemerkung verrät, dass „jene Gemeinschaften, die die größte Anzahl von Mitgliedern mit viel Sympathie umfassten, am besten gediehen und die größte Zahl von Nachkommen aufzogen“ (1871/2009; Ekman, 2010). Eltern brauchen Mitgefühl, um Kinder bis zum Alter ihrer Fortpflanzungsfähigkeit aufzuziehen, und es gibt sogar Hinweise, dass Freundlichkeit das Hauptkriterium bei der Partnerwahl bei Männern wie bei Frauen ist (vor finanziellen Erwartungen und dem Aussehen) (Keltner, 2009). Die natürliche Auslese scheint unsere Fähigkeit zu begünstigen, mit anderen zu kooperieren, auch wenn wir einen bestimmten anderen Menschen vielleicht nie wiedersehen (Delton, Krasnow, Cosmides & Tody, im Druck).
Neurobiologie
Neuroanatomisch aktivieren soziale Emotionen wie Mitgefühl Regionen im Gehirn, die deutlich unterhalb des Kortex liegen, wie Hypothalamus und Stammhirn, und die mit grundlegenden Stoffwechselprozessen und evolutionär alten Emotionen wie Angst assoziiert sind (Immordino-Yang, McColl, Damasio & Damasio, 2009; siehe auch Kapitel 8). Die mit Mitgefühl assoziierten Hirnzustände scheinen auch das mesolimbische neurale System zu aktivieren, was erklären könnte, warum Mitgefühl an sich schon eine gute Wirkung hat (Kim et al., 2011).
Den Subsystemen im Gehirn für Kampf-Erstarren-Flucht und für Konkurrenz-Belohnung steht ergänzend ein Subsystem für „Geborgenheit“ gegenüber, das für Ausgewogenheit sorgen kann (Depue & Morrone-Strupinsky, 2005; Gilbert, 2009b; siehe Kapitel 18). Das Beruhigungssystem hat mit Mitgefühl zu tun – mit Fürsorge und Trösten – und scheint mit den Neurotransmittern Oxytocin und Vasopressin reguliert zu werden. Innere Zustände des Mitgefühls sind immer beruhigend und durch eine verlangsamte Herzfrequenz (Eisenberg et al., 1988), eine niedrigere Leitfähigkeit der Haut (Eisenberg, Fabes, Schaller, Carlo & Miller, 1991) und die Aktivierung des Vagus (Oveis, Horberg & Keltner, 2009; Porges, 1995, 2001) charakterisiert – das ist das Gegenteil dessen, was bei Traurigkeit und Not passiert (Goetz et al., 2010).
Wir haben auch Spiegelneuronen, die ständig aufnehmen, was andere denken und fühlen (Rizzolatti & Craighero, 2004; Rizzolatti & Sinigaglia, 2010; Siegel, 2007), und was uns dann dazu anhält, das Leiden anderer zu mildern, damit wir uns selbst besser fühlen. Schließlich scheint es so zu sein, dass viele Menschen, besonders Frauen, eine Reaktion auf Stress kennen, die in „Sichkümmern und Befreunden“ besteht, statt in Kampf und Flucht (Taylor et al., 2000). Zusammenfassend können wir sagen, dass zahlreiche Elemente unseres Nervensystems uns dafür prädisponieren, Mitgefühl zu empfinden.
Kultivieren
Die Anstrengungen zahlloser Menschen, die während der vergangenen Jahrtausende Meditation und Gebet praktiziert haben, lassen den Schluss zu, dass es möglich ist, Mitgefühl zu einer Grundhaltung zu machen. Die Langzeitwirkungen von Mitgefühlsmeditation auf das Gehirn werden gegenwärtig mithilfe von bildgebenden Verfahren und anderen Methoden erforscht (siehe Kapitel 8). Man kann belegen, dass es möglich ist, schrittweise zu lernen, den Neokortex zu verwenden, um von einer automatischen Aktivierung der Angst durch die Amygdala und des „Selbsterhaltungssystems“ zu inneren Zuständen des Mitgefühls und dem „System zur Selbsterhaltung der Spezies“ überzugehen (Wang, 2005). Schon acht Wochen Achtsamkeitsmeditation von im Durchschnitt 27 Minuten pro Tag kann Veränderungen in der Struktur des Gehirns bewirken, die mit Selbst-Bewusstheit, Mitgefühl und Introspektion verbunden sind (Hölzel, Carmody et al., 2011).
Zu einem Training des Geistes kommt es nicht nur bewusst mit geschlossenen Augen bei der Meditation, sondern auch von Geburt an bei unseren Interaktionen mit anderen (Siegel, 2007). Bindungsstile in der frühen Kindheit können sich auf die spätere Fähigkeit von Erwachsenen auswirken, Mitgefühl zu empfinden (Gillath, Shaver & und Mukilincer, 2005), aber