Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie


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liegt der Grund, weshalb Liebe und Mitgefühl zum größten Glück führen können, einfach darin, dass wir sie von Natur aus über alles wertschätzen. Das Bedürfnis nach Liebe gehört zum Fundament menschlicher Existenz. Es ergibt sich aus der tiefen wechselseitigen Abhängigkeit, die uns allen gemeinsam ist.

      TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (2011)

      Carmen hatte an Angst gelitten, seit sie neun Jahre alt war. Als sie in der Schule einmal ein Referat in Physik halten musste, bekam sie Panik, und bald danach wurde ihr allein bei dem Gedanken schlecht, vor vielen Menschen zu stehen. Als Carmen im Alter von 27 Jahren ihre Therapie begann, hatten sie und ihre gut informierten Eltern (die beide auch an Angst litten) schon alle möglichen Medikamente und Formen von Psychotherapie ausprobiert. Aufgrund ihrer Angst, sich erbrechen zu müssen, war sie praktisch an das Haus gebunden und sehr deprimiert, wenn sie sah, wie ihre Freundinnen auf ihrem beruflichen und persönlichen Weg weitergingen, während sie nicht einmal zum Friseur gehen konnte.

      In der Psychotherapie bei einem achtsamkeitsorientierten Therapeuten entdeckte Carmen, dass sie die Wahrscheinlichkeit, sich in der Öffentlichkeit übergeben zu müssen, nur erhöhte, wenn sie gegen die Übelkeit ankämpfte. In der Therapie lernte sie auch die Technik, ihre Aufmerksamkeit in den Fußsohlen zu verankern, wenn ihr eine Begegnung mit mehreren Menschen bevorstand, und quasi auf den Wellen der Angst zu surfen, die ihren Körper durchliefen. Aber praktisch funktionierte das alles nicht, wenn die Situation da war. Carmen wurde von jeder Empfindung von Übelkeit überwältigt und erschöpft. Die von den Eltern übernommene Veranlagung und eine lebenslange Konditionierung konnten so nicht überwunden werden. Carmen und ihr Therapeut stimmten darin überein, dass ihre Situation hoffnungslos war – beinah.

      Carmen begann, aufrichtig über ihren Kampf mit sozialer Phobie und Panikstörung zu sprechen: „Ich bin gebrochen, ich leide!“ Sie und ihr Therapeut fragten sich offen, ob sie die Scham über ihren Zustand verlieren könnte, wenn sie mit jemandem über ihre Angst spräche, erbrechen zu müssen. In ihrer Verzweiflung nutzte Carmen einmal eine Chance und sprach mit ihrer Friseuse. Sie war erstaunt, wie schnell ihre Angst verschwand. Einen Monat später aber kehrten Angst und Übelkeit in voller Stärke zurück, weil sie sich zu sehr schämte, ihrer Friseuse zu erzählen, dass sie immer noch unter Panik litt. Deprimiert unterbrach Carmen ihre Therapie ein paar Monate lang.

      Als sie ihre Behandlung wieder aufnahm, brachte sie einen handgeschriebenen Zettel mit, auf dem sie beschrieben hatte, was sie in der Therapie machen wollte. Sie beschrieb einen dreifachen Ansatz: (1) Exposition, das heißt, sie wollte sich ihrer Angst bewusst aussetzen, (2) Achtsamkeit und Akzeptieren und (3) Selbstmitgefühl. Mit Tagestouren, die sie zwangen, ihre Wohnung zu verlassen, wollte sie die Konditionierung ihrer Ängste unterbrechen. Verankern ihrer Aufmerksamkeit in der sinnlichen Wahrnehmung im gegenwärtigen Moment, wie beim Kontakt ihrer Fußsohlen mit dem Boden, würde ihr helfen, die Empfindung der Übelkeit zu ertragen und sie kommen und gehen zu lassen. Und wenn sie Leuten von ihren Problemen erzählte, würde ihr das helfen, ihre Scham aufzulösen. Sie nannte den ganzen Plan „innere Akzeptanz“ – Lernen, ihr Erleben und sich selbst zu akzeptieren, wo immer sie hinging. Ihr Therapeut freute sich darüber, dass ein Teil von Carmen während des vergangenen Jahres, in dem es scheinbar keinen Fortschritt gegeben hatte, sehr anwesend gewesen war und zugehört hatte.

      In der folgenden Woche kam Carmen stolz zu ihrer Stunde: Sie hatte sich ihrer Angst im Alltag noch mehr ausgesetzt (beim Einkaufen, mit Besuchen von Freunden und Joggen) als je zuvor. Im Laufe der nächsten zwei Jahre konnte sie ihre vielen Ängste allmählich überwinden. Es war ein steiniger Weg, aber wenn es so aussah, als würde sie nicht schaffen, was sie sich vorgenommen hatte, erinnerte Carmen sich daran, dass ihr „kein Vorwurf zu machen“ war. Wenn sie merkte, dass ihr wieder übel wurde, nahm sie sicherheitshalber eine alte Plastiktasche und wartete darauf, dass dieses Gefühl vorüberging. Schließlich meldete sie sich freiwillig zur Arbeit in der Suppenküche ihrer Kirche – der erste von vielen Schritten auf dem Weg zu einem neuen Leben.

      Was passierte hier? Dieser Fall illustriert die Macht von Mitgefühl und Weisheit in der Psychotherapie. Carmen konnte nicht aufhören, gegen ihre Angst zu kämpfen, sich erbrechen zu müssen. Aber das machte es nur noch schlimmer, bis sie schließlich die ganze Fülle ihrer Verzweiflung über ihre Situation empfand und mit Wärme und Ermutigung auf ihr Elend reagierte statt mit selbstentwertender Kritik, Scham oder Rückzug. Carmen musste wie viele andere Patienten, die sich sehr schwach oder mangelhaft fühlen, erst anfangen, sich in ihrer Gebrochenheit zu akzeptieren, bevor sie sich dem stellen konnte, wovor sie Angst hatte – in diesem Fall Panik und Erbrechen, wenn sie unter Menschen war. Mitgefühl war das, was ihr gefehlt hatte. Inmitten ihrer Frustration und Verzweiflung konnte Carmen die mitfühlende Haltung ihres Therapeuten fühlen. Dies gab ihr den Mut, ihrer Friseuse von ihrer Panik zu erzählen, die dann auch mit Mitgefühl reagiert hatte. Schließlich war Carmen in der Lage, sich selbst mit Freundlichkeit und Verständnis zu begegnen.

      Weisheit spielte ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Weisheit erlaubte ihrem Therapeuten, Carmens Verzweiflung zu fühlen, ohne sich selbst für einen schlechten Therapeuten zu halten. Er konnte mit Carmens Schmerz in Resonanz bleiben, während er zugleich an der Aussicht und Hoffnung auf Veränderung festhielt. Weisheit erlaubte ihm auch, Carmen in seiner Arbeit den angemessenen Raum und sie die Expertin für ihr eigenes Leben sein zu lassen. Er half ihr, eine Atmosphäre der Neugier, von Unbeschwertheit mit Ungewissheit und gegenseitiger Wertschätzung herzustellen. Carmens eigene Weisheit entfaltete sich in vielerlei Weise: Sie begann, ihre Probleme aus einer neuen und weiteren Perspektive zu betrachten als bisher. Sie erkannte die katastrophenartige, unrealistische Bedeutung, die das Erbrechen für sie angenommen hatte. Sie nahm ihre angstvollen, selbstentwertenden Gedanken weniger ernst und sie tolerierte Unangenehmes als etwas, was „nicht sie“ selbst, womit sie nicht identisch war. Sie konnte gelegentliche Rückschläge und Versagen als Teil des Lebens sehen und sich sinnvollen Aktivitäten mit anderen widmen.

      Aber was genau sind Weisheit und Mitgefühl? Warum sind sie in der Psychotherapie wichtig? In diesem Kapitel versuchen wir, diese so schwer zu fassenden Begriffe zu definieren und ihren begrifflichen, wissenschaftlichen und historischen Kontext in den westlichen und in buddhistischen Traditionen kurz zu umreißen. Wir beginnen auch, die Relevanz dieser Qualitäten für die therapeutische Arbeit, die das Thema des Buches ist, zu untersuchen.

      Achtsamkeit, die Grundlage von

      Weisheit und Mitgefühl

      Das Interesse daran, Achtsamkeit in die Praxis von Psychotherapie aufzunehmen, ist in den letzten 25 Jahren stetig angewachsen. Achtsamkeit- und akzeptanzbasierte Behandlung gilt als die „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie (Baer, 2006; Hayes, Follette & Linehan, 2012; Hayes, Villatte, Levin & Hildebrandt, 2011; Hoffman & Asmundson, 2008), nach verhaltensorientierten Ansätzen im engeren Sinn und der kognitiven Verhaltenstherapie. Und Achtsamkeit beeinflusst eine Reihe anderer Behandlungsmodelle wie psychodynamische (Epstein, 2011; Hick & Bien, 2010; Safran, 2003), humanistische (Johanson, 2009; Khong & Mruk, 2009) und familientherapeutische Ansätze (Carson, Carson, Gil & Baucom, 2004; Gambrel & Keeling, 2010; Gehart & McCollum, 2007). In der achtsamkeitsorientierten Therapie ist man viel weniger daran interessiert, den Inhalt persönlicher Erfahrungen zu verändern als viel mehr die momentane Beziehung zu Empfindungen, Gedanken, Emotionen und zum Verhalten. Diese neue Beziehung ist durch Achtsamkeit charakterisiert: „(1) Bewusstheit (2) des gegenwärtigen Moments (3) mit Akzeptanz“ (Germer, 2009) oder durch „die Bewusstheit, die dadurch entsteht, dass man mit Absicht und ohne zu werten mit der Aufmerksamkeit bei der Entfaltung der Erfahrung von Moment zu Moment“ ist (Kabat-Zinn, 2003, S. 145). Sie betont besonders die Akzeptanz: „aktives, nicht wertendes Annehmen von Erfahrung im Hier und Jetzt“ (Hayes, 2012). Das Gegenteil von Achtsamkeit und Annehmen ist Widerstand gegen oder Vermeiden von Erfahrung – die Abwehr unangenehmer Erfahrungen dadurch, dass man den Körper anspannt, in Gedanken stecken bleibt, schwierige Situationen meidet oder mit psychischen Abwehrmechanismen Gefühle blockiert. Obwohl solche Reaktionen auf kurze Sicht emotionale Unannehmlichkeiten reduzieren können, tendieren sie dazu, Leiden auf lange Sicht zu verstärken (Fledderus, Bohlmeijer & Pieterse, 2010; Kingston, Clarke & Remington, 2010).

      Die Forschung über Achtsamkeit