Christopher Germer

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie


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      Diesen Fragen ist dieses Buch gewidmet. Die Autoren, kompetent und führend auf ihren jeweiligen Gebieten, standen vor der Aufgabe, ihre Einsichten über Mitgefühl oder Weisheit in einem relativ kurzen Kapitel darzustellen. Viele haben sich bemüht, ihre Ideen und Vorstellungen zu vermitteln, ohne als „Experten“ für Mitgefühl oder Weisheit aufzutreten – wofür sich im Geist des Themas niemand qualifiziert fühlte. Als Herausgeber hoffen wir, dass Sie auch der Meinung sein werden, dass die Autoren ihre Ziele auf bewundernswerte Weise erreicht haben.

      Mitgefühl und Weisheit sind seit mindestens 2500 Jahren für die buddhistische Psychologie und andere introspektive Traditionen zentral, sowohl als wesentliche Konzepte als auch als praktische Wege zur Befreiung von Leiden. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte konvergiert besonders die buddhistische Psychologie in einem beachtlichen Ausmaß mit der modernen Psychologie, vor allem in Form empirisch unterstützter achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Behandlungsformen. In dem Maß, in dem die persönliche und professionelle Praxis von Achtsamkeit für viele Therapeuten an Bedeutung gewinnt und reift, wächst auch das Interesse daran, neue Möglichkeiten zu finden, unseren Weg durch komplexe und komplizierte Lebensumstände zu verstehen und zu sehen (Weisheit) und unser Herz für Leiden zu öffnen (Mitgefühl).

      Der Dalai Lama hat sowohl die Tagung in Harvard als auch dieses Buch inspiriert. Er ist nicht nur ein brillanter Lehrer von Weisheit und Mitgefühl, sondern er verkörpert diese Qualitäten auch in seinem Leben. Dieser Satz fiel während der Tagung: „Seine Heiligkeit macht uns stolz, Menschen zu sein.“ Und der Dalai Lama arbeitet unermüdlich mit Wissenschaftlern aus aller Welt an der Erforschung der Möglichkeiten, wie Weisheit und Mitgefühl dabei mitwirken können, individuelles und kollektives Leiden in der modernen Zeit zu verringern. Sein Ansatz ist für einen religiösen Führer unkonventionell, wie eine Bemerkung in einem Vortrag im Jahr 2005 verrät:

      … empirische Beweise sollten über die Autorität von Schriften triumphieren, gleich, wie sehr eine Schrift verehrt wird. Auch wenn Wissen durch Vernunft oder auf dem Weg von Schlussfolgerungen erlangt wurde, muss seine Gültigkeit letztlich von beobachteten Erfahrungstatsachen abgeleitet sein.

      Dieses Buch ist von den Einsichten der buddhistischen Psychologie und Praxis sowie von psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Entdeckungen geprägt. Wie wir auf der Tagung erlebt haben, kann der Austausch zwischen diesen unterschiedlichen Weltsichten zugleich aufregend, verwirrend und fruchtbar sein.

      Psychotherapie und buddhistische Ausbildung des Geistes haben ein gemeinsames Ziel: emotionales Leiden überwinden. Mitgefühl und Weisheit sind Qualitäten des Geistes, die möglich machen, Leiden zu ertragen und anzunehmen und sogar durch Leiden zu wachsen. Wenn man zum Beispiel Empathie mit dem Schmerz eines Patienten empfindet, aber nicht zugleich die positive innere Haltung von Mitgefühl nährt, oder wenn man sich selbst aus dem Kreis derjenigen, mit denen man Mitgefühl hat, ausschließt, kann es leicht dahin kommen, dass man in das gerät, was wir Erschöpfung des Mitgefühls (compassion fatigue) nennen.

      Und auch Weisheit hilft. Sie erlaubt uns, Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, zu erkennen, dass die Umstände sich ständig verändern, und zu verstehen, dass sich auf unser Gefühl von Wohlsein noch mehr als unsere Lebensbedingungen auswirkt, wie wir uns zu unserer Erfahrung verhalten (zum Beispiel empfindsam und zart oder gleichgültig, annehmend oder mit Widerstand, neugierig oder vermeidend). Mit Mitgefühl und Weisheit gibt es immer Hoffnung.

      Weisheit und Mitgefühl sind auch nicht zu trennen, das eine kann einfach nicht ohne das andere sein. Die meisten nehmen wahr, dass sich ihr Herz öffnet, wenn sie das Problem eines Patienten auf mehreren Ebenen verstehen. Umgekehrt sieht man mehr Behandlungsmöglichkeiten, wenn man gegenüber einem Klienten warme Gefühle empfindet. In diesem Buch wird beschrieben, wie sich Weisheit und Mitgefühl auf der relativen Ebene – Tag für Tag in der Erfahrung der Psychotherapie – wie auf der absoluten Ebene – in unserer fundamentalen, nicht konditionierten Natur – mischen. Je nach unserer Perspektive können wir sagen, dass Mitgefühl aus Weisheit oder dass Weisheit aus Mitgefühl entsteht. In jedem Fall aber sind diese zwei Qualitäten auf der tiefsten Ebene der Erfahrung und des Verstehens nicht zu unterscheiden.

      Die überraschendste Entdeckung besteht für viele Menschen darin, dass Weisheit und Mitgefühl eigentlich Qualitäten sind, die man bewusst entwickeln und kultivieren kann. Wenn wir bei der Achtsamkeitsmeditation still in unser inneres Leben schauen, können wir Weisheit und Einsicht entwickeln: Wie unser Geist und unsere Psyche und unsere Abneigungen und Empfindlichkeiten funktionieren und arbeiten. Wir nehmen wahr, wie bestimmte Gedanken und Emotionen unser Bewusstsein vereinnahmen und uns zu unbewusstem, häufig mit Stress verbundenem Grübeln verleiten. Wir können auch Mitgefühl entwickeln – das innere Gespräch von entwertender Selbstkritik zu Selbstermutigung verändern –, und zwar mithilfe bestimmter Übungen, von denen viele in diesem Buch beschrieben werden. Interessanterweise entstehen in der intimen therapeutischen Beziehung Weisheit und Mitgefühl oft zugleich im Geist und im Herzen des Therapeuten und des Klienten, wenn sie empathisch aufeinander eingestimmt sind. Wenn wir das Wesen dieser Qualitäten erforschen und erkennen, wie sie sich entwickeln, können wir lernen, sie in unserem persönlichen und professionellen Leben weiter zu kultivieren.

      Ein besonderer Zug buddhistischer Ausbildung des Geistes ist das Bodhisattva-Ideal. Ein Bodhisattva ist eine Person, die sich dem Wohlergehen anderer widmet. Die meisten Psychotherapeuten fallen in diese Kategorie, wenigstens zeitweise. Das traditionelle „Gelöbnis“ eines Bodhisattva ist eine Verpflichtung, Erleuchtung nicht nur für sich selbst anzustreben, sondern die Bemühungen darum so lange fortzusetzen, bis alle Wesen von Leiden befreit sind – denn wie kann man frei von Leiden sein, wenn man jemandem begegnet, der noch damit ringt? Der Weg von Mitgefühl und Weisheit ist daher eine gemeinschaftliche Anstrengung. In diesem Geist übergeben wir unseren Freunden und Kollegen in der ganzen Welt dieses Buch.

      Mögen wir mit Mitgefühl und Weisheit offen für Leiden sein.

      Mögen wir uns selbst und andere annehmen, wie sie sind.

      Mögen wir unsere tiefste Natur erkennen.

      Mögen wir frei sein.

      1

       Was sind Weisheit und Mitgefühl?Warum sollten wir uns um sie kümmern?

      Viele Therapeuten haben mittlerweile ein gewisses Verständnis von Achtsamkeit. Obwohl Achtsamkeit ihrem Wesen nach eine vorbegriffliche Erfahrung ist, haben die Bemühungen, sie zu definieren und zu messen, dazu beigetragen, dass über diagnostische und theoretische Aspekte hinaus ein anhaltendes Forschungsinteresse entstanden ist. Mit der Zeit und mit mehr Praxis und Übung führt die unmittelbare Erfahrung von Achtsamkeit zu den verwandten Erfahrungen von Mitgefühl und Weisheit. Was Mitgefühl und Weisheit eigentlich sind, wird bisher weniger gut verstanden, auch wenn es Bemühungen, sie zu beschreiben, schon so lange gibt wie schriftliche Aufzeichnungen der Geschichte. Auch diese Begriffe und Konzepte können sich auf die therapeutische Forschung und die Praxis der Psychotherapie auswirken.

      In Kapitel 1 wird die Bedeutung von Mitgefühl und Weisheit in Ost und West sowie ihre enge Beziehung miteinander und mit Achtsamkeit untersucht. In Kapitel 2 wird modellhaft beschrieben, wie Therapeuten achtsame Präsenz herstellen können – ein Schatz an Weisheit und Mitgefühl –, auch wenn sie in ihrem Leben mit Schwierigkeiten konfrontiert sind. In Kapitel 3 sehen wir dann, wie positive Emotionen wie Liebe und Mitgefühl zu einer Basis dafür werden können, wie man sich innerlich öffnen und Bewusstheit erweitern und vertiefen kann. Das kann dazu führen, dass sich Weisheit und Mitgefühl als Züge der Persönlichkeit ausbilden.

      Wir laden Sie ein, die Übungen in diesen drei Kapiteln und im ganzen Buch auszuprobieren und die Ideen, denen Sie begegnen, vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrung zu prüfen.

      KAPITEL 1

      Weisheit und Mitgefühl

      Zwei Flügel eines Vogels

      RONALD