Zudem lässt positive Verstärkung oft einen Teufelskreis entstehen, der an den erinnert, der beim Liebesentzug zu beobachten ist: Je mehr wir loben, umso mehr wächst das Bedürfnis unserer Kinder nach Lob. Sie wirken unsicher, sehnen sich danach, dass wir ihnen noch einmal den Kopf tätscheln; wir tun es und ihr Verlangen steigert sich noch. Carol Dweck, Psychologin an der Columbia University, hat Voruntersuchungen angestellt, die vielleicht erklären können, was hier geschieht. Wenn wir Bemerkungen äußern, die „eine bedingte Anerkennung andeuten (und dadurch vermutlich das Gefühl eines nur bedingten Wertes aufkommen lassen)“, beginnen kleine Kinder, Zeichen von Hilflosigkeit zu zeigen. Positive Verstärkung ist eine Form bedingter Liebe, und Dweck argumentiert, es sei nicht nur eine bestimmte Eigenschaft oder ein Verhalten, das wir nur unter gewissen Bedingungen akzeptierten. Vielmehr sehe das Kind sein „ganzes Selbst“ nur dann als gut an, wenn es den Eltern gefällt. Dies ist eine wirksame Art, das Selbstwertgefühl zu untergraben. Je öfter wir „gut gemacht!“ sagen, umso schlechter wird das Selbstwertgefühl des Kindes und umso mehr Lob braucht es.15
Natürlich sollte uns das skeptisch hinsichtlich der Behauptung machen, Lob sei in Ordnung, weil Kinder offenbar danach verlangten. Wenn Sie Geld verdienen müssen und der einzige verfügbare Job aus sich ständig wiederholender, stumpfsinniger Plackerei besteht, nehmen Sie ihn vielleicht als letzten Ausweg an. Doch das bedeutet nicht, dass Sie eine solche Arbeit gutheißen. Es heißt nur, dass man das nimmt, was man bekommen kann. Was Kinder wirklich brauchen, ist Liebe ohne Bedingungen. Doch wenn alles, was ihnen angeboten wird – als einzige Alternative zu Kritik oder Missachtung – Anerkennung ist, die auf dem beruht, was sie getan haben, saugen sie die auf und verlangen vielleicht mit einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit nach mehr. Manche Eltern, die in ihrer Kindheit zu wenig bedingungslose Liebe bekommen haben, diagnostizieren dieses Problem traurigerweise falsch und glauben, es habe ihnen an Lob gefehlt. Dann überschütten sie ihre Kinder mit „gut gemacht!“ und sorgen so dafür, dass wieder eine Generation nicht das bekommt, was sie wirklich braucht.
Viele Eltern haben mir gesagt, es sei hart, diese Erklärungen zu hören, besonders beim ersten Mal. Es ist schon schlimm genug, wenn jemand andeutet, dass Sie bei Ihren Kindern vielleicht etwas falsch machen, doch es ist noch schlimmer, gesagt zu bekommen, dass genau das, was man richtig zu machen glaubte und worauf man bisher stolz war – etwa darauf, die eigenen Kinder zu loben, damit sie ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln –, in Wirklichkeit vielleicht mehr Schaden als Nutzen anrichtet.
Manche Leute erwidern darauf: „Was ist die Alternative?“ Das ist eine sehr vernünftige Frage, sofern wir uns mit Alternativen zum ganzen Konzept einer an Bedingungen geknüpften Erziehung befassen (wie ich es später tun werde), statt nur oberflächliche Änderungen dessen, was wir zu Kindern sagen – eine neue, verbesserte Version des Lobens –, anzustreben.
Manche Leute fühlen sich bei diesen Gedanken unbehaglich und machen nervöse Witzchen: „Haha. Dann kann ich Ihnen wohl nicht sagen, dass mir Ihr Buch gefallen hat, weil ich Sie dadurch ja loben würde. Hahaha.“16 Das ist verständlich. Es dauert eine Weile, bis man eine neue Vorstellung akzeptieren kann, vor allem eine, die uns veranlasst, vieles von dem, was wir bisher getan haben und wovon wir ausgegangen sind, zu überdenken. Wir müssen uns an das neue Konzept gewöhnen, es ausprobieren und während der Übergangsphase kann sich unser Unbehagen auf vielerlei Weise Ausdruck verschaffen.
Manche Leute fragen sich, ob das bedeutet, dass sie schlechte Eltern seien, weil sie sich lange auf Liebesentzug und positive Verstärkung verlassen haben (selbst wenn sie diese Bezeichnungen nie verwendet haben). In den meisten Fällen ist es jedoch einfach so, dass niemand ihnen bisher die Möglichkeit aufgezeigt hat, die Dinge so zu sehen, oder ihnen Beweise präsentiert hat, die Zweifel aufkommen lassen an all den ständigen unkritischen Ratschlägen, unsere Kinder öfter zu loben oder Auszeiten zu verhängen.
Manche Leute allerdings fragen weder nach Alternativen, noch versuchen sie, lustig zu sein, noch machen sie sich Sorgen. Stattdessen tun sie diese Kritik ab und weisen (mit einer gewissen Berechtigung) darauf hin, dass wir mit unseren Kindern viel Schlimmeres tun könnten, als Enthusiasmus über das, was sie getan haben, zum Ausdruck zu bringen. In der Tat wird Kindern jeden Tag viel Schlimmeres angetan. Jedoch ist das keine gute Grundlage für einen Vergleich – jedenfalls nicht für Menschen, die die besten Eltern sein wollen, die sie sein können. Wichtig ist, dass wir etwas Besseres tun können.
Die Kontroverse zum Thema Selbstwertgefühl
Liebesentzug und positive Verstärkung können eine Reihe beunruhigender Folgen haben, von einem Gefühl der Hilflosigkeit bis hin zu einer mangelnden Bereitschaft, anderen zu helfen, und (wenn die Kinder erwachsen sind) von der Angst, verlassen zu werden, bis hin zu einem Groll gegenüber ihren Eltern. Doch die Auswirkung, die sich durch die in diesem und dem vorigen Kapitel zusammengefassten Forschungsergebnisse hindurchzieht, hat damit zu tun, wie sich Menschen, die einer an Bedingungen geknüpften Erziehung ausgesetzt waren, selbst einschätzen.
Die übliche Bezeichnung dafür ist Selbstwertgefühl, was im Lauf der letzten Jahrzehnte zu einer Art Schlagwort geworden ist. Bevor ich dieses Kapitel abschließe, möchte ich ein paar Seiten dafür aufwenden, dieses Konzept zu analysieren, weil es für den an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatz wichtig ist. Etliche Leute aus den Bereichen Psychologie und Pädagogik, ganz besonders jene, die mit dem, was als Selbsthilfebewegung bezeichnet wird, zu tun haben, scheinen zu glauben, ein starkes Selbstwertgefühl sei gut, ein geringes sei schlecht, und wenn man den Grad des Selbstwertgefühls bei jemandem steigere, führe das automatisch zu einer Reihe positiver Auswirkungen: akademischen Leistungen, konstruktiven Lebensentscheidungen und so weiter. Auf der anderen Seite ist Selbstwertgefühl zum Blitzableiter für Gesellschaftskonservative geworden, zum Kürzel für alles, was sie als Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft und besonders unseren Schulen ansehen.
Meiner Ansicht nach sind beide Positionen problematisch. Vor ein paar Jahren habe ich mich recht umfassend mit der vorliegenden Forschung beschäftigt17 und etwas überrascht festgestellt, dass ein höheres Selbstwertgefühl nicht immer von besseren Ergebnissen begleitet ist, und selbst wenn dies der Fall ist, bedeutet dies nicht, dass es die besseren Ergebnisse hervorgerufen hätte.
Allerdings bringt mich das nicht in das Feld derjenigen, die vom ganzen Konzept des Selbstwertgefühls nichts halten. Manche sind dieser Ansicht, weil sie glauben, wenn Kinder im Grunde mit sich selbst zufrieden seien, hätten sie keine Motivation, irgendetwas zu leisten. Wenn ihre Aufmerksamkeit auf den Wert dessen, wer sie sind, statt auf das, was sie tun, gerichtet sei, würden sie wahrscheinlich nicht viel leisten. Man müsse unzufrieden sein, um etwas zu lernen oder herzustellen. Wer es zu etwas bringen will, muss leiden.
Diese Behauptung beruht auf mehreren falschen Prämissen, die ich in Kapitel 5 näher erläutern werde. Im Moment möchte ich aber nur auf Folgendes aufmerksam machen: Zwar behaupten viele Kritiker, ein höheres Selbstwertgefühl habe keinerlei positive Auswirkungen, jedoch liegt der Kern ihrer Argumentation darin, dass Selbstwertgefühl einfach etwas Schlechtes sei, unabhängig von seiner Wirkung. Für sie ist der schlimmste Begriff, den sie sich vorstellen können, Wohlfühlpädagogik, was andeutet, dass sie offenbar glauben, mit sich selbst zufrieden zu sein habe etwas zutiefst Suspektes an sich. Knapp unter der Oberfläche ihrer Polemik lauert die Angst, Kinder könnten sich zufrieden fühlen, ohne sich das Recht verdient zu haben, so zu empfinden. Hier haben wir die Welt der Tatsachen verlassen und sind durch die Hintertür in das Reich der moralistischen Grundüberzeugungen eingetreten. Dies ist ein Ort puritanischer Inbrunst, wo Menschen nur im Schweiße ihres Angesichts essen dürfen und Kinder keine gute Meinung von sich selbst haben dürfen, wenn sie nicht eine greifbare Leistung vorweisen können.
Mit anderen Worten, die Konservativen richten sich eigentlich gegen ein bedingungsloses Selbstwertgefühl. Jedoch erkennen Forscher gerade, dass eben diese Dimension entscheidend ist, um die Lebensqualität von Menschen einschätzen zu können. Wenn wir uns für die psychische Gesundheit eines Menschen interessieren, ist die entscheidende Frage vielleicht nicht die, wie viel Selbstwertgefühl er besitzt. Vielmehr kommt es darauf an, wie stark sein Selbstwertgefühl je nachdem, was in seinem Leben geschieht – etwa wie erfolgreich er ist oder was andere von ihm denken –, schwankt. Das wirkliche Problem