Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit


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Brille geworden? Jedes „Wenn du dich nicht beruhigst, gehen wir nie mehr einkaufen!“ und „Wenn du aufhörst zu schreien, gehen wir ein Eis essen, Schatz!“ droht mich zu ersticken. Wie habe ich es früher nur geschafft, das auszublenden?

      Denken Sie noch einmal über die in den letzten beiden Kapiteln beschriebenen Methoden eines an Bedingungen geknüpften Erziehungsstils nach. Ein Grund, weshalb sie so schädlich sind, hat damit zu tun, dass das Kind die Erfahrung macht, von außen gesteuert zu werden. Anders herum läuft es ähnlich: Wenn wir Strafen, Belohnungen und andere Strategien zur Manipulation kindlichen Verhaltens einsetzen, bekommt das Kind vielleicht den Eindruck, es werde nur geliebt, wenn es unseren Anforderungen entspricht. Ein an Bedingungen geknüpfter Erziehungsstil kann die Folge zu starker Kontrolle sein, selbst wenn er nicht beabsichtigt war, und umgekehrt kann Kontrolle die destruktiven Auswirkungen erklären helfen.

      Doch übermäßige Kontrolle ist schon an sich ein Problem und verdient ein eigenes Kapitel. Sie ist nicht auf eine bestimmte Form der Disziplinierung beschränkt, auf eine Auszeit oder eine Tabelle mit Sternchen, eine Tracht Prügel oder ein „gut gemacht“, ein gewährtes oder entzogenes Vergnügen. Eine Methode durch eine andere zu ersetzen bewirkt nicht viel, wenn wir uns nicht mit der folgenden grundlegenden Tatsache auseinandersetzen: Das verbreitetste Erziehungsproblem in unserer Gesellschaft ist nicht zu große Toleranz, sondern die Angst vor zu großer Toleranz. Wir fürchten uns so davor, Kinder zu verwöhnen, dass wir sie im Endeffekt oft übertrieben kontrollieren.

      Zugegeben, manche Kinder werden verwöhnt – und manche werden vernachlässigt. Doch worüber im Allgemeinen viel seltener diskutiert wird, ist die Epidemie, Kinder bis ins Kleinste hinein zu managen, so zu tun, als seien sie Ableger von uns, die uns gehörten. Daher lautet eine wichtige Frage, auf die ich später zurückkommen werde, wie wir Orientierung bieten und Grenzen setzen können (was beides nötig ist), ohne es mit der Kontrolle zu übertreiben. Zunächst jedoch müssen wir uns darüber klar werden, inwieweit wir es vielleicht tatsächlich übertreiben und warum das eine Versuchung ist, der wir widerstehen sollten.

      Die Art, wie mit vielen Kindern umgegangen wird, zeugt von mangelndem Respekt für ihre Bedürfnisse und Vorlieben – ja, von einem mangelnden Respekt für Kinder, Punkt. Viele Eltern verhalten sich so, als glaubten sie, dass Kinder gar keinen Respekt wie den, den man Erwachsenen entgegenbringt, verdienten. Vor vielen Jahren forderte uns der Psychologe Haim Ginott auf, einmal darüber nachzudenken, wie wir reagieren würden, wenn unser Kind versehentlich etwas liegen gelassen hätte, was ihm gehörte – und es damit zu vergleichen, wie wir reagieren würden, wenn ein chronisch vergesslicher Freund von uns dasselbe täte. Kaum jemand käme auf den Gedanken, einen anderen Erwachsenen in dem Ton auszuschimpfen, der gegenüber Kindern an der Tagesordnung ist: „Was ist nur los mit dir? Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nachsehen sollst, ob du alles hast, bevor du gehst? Meinst du, ich hätte nichts Besseres zu tun als .“ und so weiter. Zu einem Erwachsenen würden wir wahrscheinlich einfach nur sagen: „Hier ist dein Schirm.“1

      Manche Eltern greifen aus reiner Gewohnheit ein und bellen: „Hör auf zu rennen!“, auch wenn kaum ein Risiko besteht, sich oder andere zu verletzen oder etwas zu beschädigen. Manche erwecken den Eindruck, als versuchten sie, ihrem Kind seine eigene Machtlosigkeit unter die Nase zu reiben und ihm zu zeigen, wer der Boss ist: „Weil ich die Mama bin, deshalb!“ „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst.“ Manche versuchen, durch körperliche Gewalt Kontrolle über Kinder auszuüben, während andere Schuldgefühle einsetzen („Nach allem, was ich für dich getan habe! Du brichst mir das Herz.“). Manche Eltern meckern ständig an ihren Kindern herum, ermahnen und kritisieren sie permanent. Andere lassen sich gar nicht anmerken, dass sie gegen das, was ihre Kinder tun, etwas haben, bis sie anscheinend aus dem Nichts heraus explodieren; eine unsichtbare Grenze – die vielleicht mehr mit der Stimmung des Erwachsenen als mit dem Verhalten des Kindes zu tun hat – ist überschritten worden, und plötzlich wird die Mutter oder der Vater erschreckend wütend und wendet Zwang an.

      Natürlich tun nicht alle Eltern all diese Dinge und manche tun nie irgendetwas davon. Studien haben ergeben, dass Überzeugungen und Verhaltensweisen im Bereich der Kindererziehung unter anderem je nach Kultur, sozialer Schicht und ethnischer Zugehörigkeit und danach, wie viel Druck die Eltern selbst erleben, variieren. (Siehe Anhang für nähere Angaben zu diesen Themen.) Darüber hinaus versichern uns Forscher, dass die meisten Eltern nicht immer denselben Erziehungsstil anwenden, sondern dazu neigen, auf verschiedene Arten von Fehlverhalten unterschiedlich zu reagieren.2

      Doch die interessanteste Frage ist vielleicht, wie Eltern überhaupt entscheiden, was „Fehlverhalten“ eigentlich ist. Manche wenden diese Bezeichnung regelmäßig auf Dinge an, die Sie oder ich als harmlose Handlungen ansehen würden – und gehen dann scharf gegen ihre Kinder vor.3 Dies mag Teil eines Erziehungsstils sein, der manchmal als „autoritär“ bezeichnet wird. Solche Eltern sind eher streng und fordernd als tolerant und ermutigend. Sie geben selten Erklärungen oder Rechtfertigungen für die Regeln ab, die sie vorschreiben. Sie erwarten nicht nur absoluten Gehorsam und setzen reichlich Strafen ein, um diesen zu erreichen, sondern sind auch der Ansicht, es sei wichtiger für Kinder, sich Autoritäten zu fügen, als selbstständig zu denken oder die eigene Meinung auszudrücken. Sie bestehen darauf, Kinder müssten sorgfältig überwacht werden; und wenn Regeln verletzt werden – was ihren dunklen Verdacht darüber, wie Kinder wirklich sind, nur bestätigt –, neigen autoritäre Eltern zu der Annahme, das Kind habe die Regel mit voller Absicht übertreten, unabhängig von seinem Alter, und müsse nun zur Rechenschaft gezogen werden.

      Erschreckenderweise sind dieselben Themen der „Unterwürfigkeit gegenüber den Forderungen der Eltern und… eine frühe Unterdrückung von Impulsen, die für die Eltern nicht hinnehmbar waren“ in einem klassischen, nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Forschungsprojekt zu finden, das sich mit dem psychologischen Gerüst des Faschismus und insbesondere der Kindheit von Menschen befasste, die damit aufwachsen, ganze Gruppen von Menschen zu hassen, und machtbesessen zu sein scheinen.4

      Natürlich sind das die Extreme des breiten Spektrums der Kontrolle. Wenn man von solchen extremen Fällen hört, ist es ganz natürlich zu sagen: „Nun, offenbar bin ich ja nicht so. Ich bin weder autoritär, noch würde ich mein Kind auf dem Spielplatz anschreien, nur weil es Spaß hat.“ Doch fast jeder gibt zumindest gelegentlich dem Impuls der übertrieben starken Kontrolle nach. Manche tun dies aufgrund ihrer Überzeugung, Kinder müssten lernen zu tun, was man ihnen sagt (denn schließlich wissen es Erwachsene doch besser als Kinder, oder?). Manche Menschen haben eine kontrollierende Persönlichkeit und haben sich von Anfang an angewöhnt, ihren Kindern ihren Willen aufzuzwingen.5 Andere sind einfach hin und wieder ratlos, vor allem, wenn ihr Kind sich gegen sie auflehnt. Und vielen Eltern liegt das Wohlergehen ihrer Kinder wirklich am Herzen, jedoch haben sie nie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass das, was sie tun, übermäßige und kontraproduktive Kontrolle darstellt.

      Für die meisten von uns ist es leicht, Paradebeispiele schlechter Erziehung zu beobachten, Eltern, die ihre Kinder viel stärker kontrollieren als wir, und dann befriedigt festzustellen: „Wenigstens würde ich das nie tun.“ Doch die wirkliche Herausforderung besteht darin, über die Dinge zu reflektieren, die wir tun, und uns zu fragen, ob sie wirklich im Interesse unserer Kinder sind.

      Welche Kinder tun, was man ihnen sagt?

      Lassen wir die ehrgeizigen Ziele, die wir für unsere Kinder haben, einmal außer acht und richten den Blick nur darauf, was sie dazu bewegt, unseren Bitten Folge zu leisten. Wenn es uns nur darum ginge, sie zu bewegen, jetzt sofort, während wir da stehen, irgendetwas zu tun oder mit etwas aufzuhören, müssten wir zugeben, dass es manchmal funktioniert, wenn man seine Macht einsetzt, um dieses Verhalten zu erzwingen – zum Beispiel indem man droht, straft oder lautstark Forderungen stellt.6 Doch im Allgemeinen sind Kinder, die tun, was man ihnen sagt, oft die, deren Eltern nicht mit dem Einsatz von Macht arbeiten, sondern eine warme und sichere Beziehung zu ihnen entwickelt haben. Ihre Eltern behandeln sie mit Respekt, verwenden so wenig Kontrolle wie möglich und legen Wert darauf, Gründe und Erklärungen für das, worum sie bitten, zu liefern.

      In einer klassischen Studie unterschieden die Forscher zwischen der Art Mutter, die sensibel,