Daraus kann schnell ein Teufelskreis entstehen: Je weniger ein Kind die Chance bekommt, Entscheidungen darüber zu treffen, wie es richtig handeln soll, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es auf eine Weise handelt, die für die Eltern Anlass ist, seine Unverantwortlichkeit als Grund dafür anzuführen, dass sie ihm weiterhin die Entscheidungsfreiheit verweigern.
Eine häufig erwähnte Rezension der Forschungen über die kindliche Entwicklung berichtet, dass Kinder autoritärer Eltern bei bestimmten Beurteilungskriterien zwar keine Auffälligkeiten zeigen, was den Widerstand gegenüber Versuchungen angeht, jedoch bedeutsamere Hinweise darauf schließen lassen, dass sie „weniger Anzeichen eines ‚Gewissens‘ zeigen und mehr zu einer äußeren statt einer inneren Orientierung in der Frage, was das ‚richtige‘ Verhalten in moralischen Konfliktsituationen ist, neigen“23.
Interesse
Eine weitere Folge zu starker Kontrolle: Wenn Kinder sich gezwungen fühlen, etwas zu tun – oder wenn sie in der Art, wie sie etwas tun, zu sehr gegängelt werden –, neigen sie dazu, sich weniger für das, was sie tun, zu interessieren und etwas Schwieriges schneller aufzugeben. Im Rahmen eines spannenden Versuchs wurden Eltern aufgefordert, sich auf den Fußboden neben ihre sehr kleinen Kinder – die noch keine zwei Jahre alt waren und mit Spielsachen spielten – zu setzen. Manche Eltern rissen die Aufgabe gleich an sich oder stießen barsche Anweisungen hervor („Leg das Bauklötzchen drauf. Nein, nicht dahin. Da! “). Andere waren damit zufrieden, ihre Kinder erkunden zu lassen, ermutigten sie und boten Hilfe nur bei Bedarf an. Später wurde den Kleinkindern etwas anderes zum Spielen gegeben, diesmal ohne das Beisein ihrer Eltern. Sobald sie allein waren, neigten die Kinder der stark kontrollierenden Eltern eher dazu, aufzugeben, statt zu versuchen, herauszufinden, wie das neue Spielzeug funktionierte.
Rund zehn Jahre später kam eine andere Studie bei sechs- und siebenjährigen Kindern zu sehr ähnlichen Ergebnissen: Diejenigen, deren Eltern auf eine stark kontrollierende Weise mit ihnen gespielt hatten (ihnen gesagt hatten, was sie tun sollten, sie kritisiert oder gelobt hatten), schienen das Interesse an dem, was sie taten, zu verlieren. Sie spielten weniger mit den Spielsachen, wenn sie allein waren, und sie sagten auch, die Spielsachen machten ihnen weniger Spaß, als dies bei den Kindern mit weniger stark kontrollierenden Eltern der Fall war.24
Fähigkeiten
Die erste dieser Studien, die ein Abnehmen des kindlichen Interesses zeigten, wurde Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts von Wendy Grolnick, einer ehemaligen Schülerin von Deci und Ryan, und ihren Mitarbeitern durchgeführt. (Die zweite Studie wurde von Deci selbst und anderen durchgeführt.) Rund zwei Jahrzehnte später entdeckte Grolnick, dass eine starke Kontrolle durch die Eltern nicht nur dazu führt, dass Kinder weniger Interesse an dem, was sie tun, haben: Sie kann auch zur Folge haben, dass Kinder schlechtere Leistungen bei dem, was sie tun, erreichen. Bei dieser Studie beobachtete sie, wie Drittklässler und ihre Eltern bei Projekten zusammenarbeiteten, die Hausaufgaben ähnelten (bei einem ging es um die Verwendung von Landkarten, bei einem anderen um Reimschemata von Gedichten). Nach der gemeinsamen Arbeit wurde jedes Kind allein gelassen und gebeten, ähnliche Aufgaben auszuführen. Die Kinder, die von ihren Eltern stärker kontrolliert worden waren, erbrachten alleine schlechtere Leistungen.25
Interessanterweise waren die Eltern, die am meisten Kontrolle ausübten (zumindest bei der Aufgabe mit den Gedichten), diejenigen, die sich selbst kontrolliert fühlten – durch die Mitteilung des Versuchsleiters, die für die Aufgaben benötigten Fähigkeiten ihrer Kinder würden getestet werden.26 Dasselbe geschieht oft bei Lehrern: Wenn ihnen Druck gemacht wird, „die Anforderungen zu erhöhen“, werden sie zu Drillmeistern. Die Ironie liegt darin, dass ihre Schüler daraufhin letztlich weniger erreichen als Schüler in Klassen, wo weniger Wert auf „Rechenschaftspflicht“ gelegt wird.27
In ihrem sehr nützlichen und prägnanten Buch The Psychology of Parental Control fasst Grolnick eine Menge anderer Forschungsarbeiten zusammen, die zeigen, dass „ein kontrollierender Erziehungsstil im Zusammenhang steht mit einem geringeren Grad intrinsischer Motivation, geringerer Internalisierung von Werten und Moralvorstellungen, einer schlechteren Selbstregulierung“ und einem schlechteren Selbstwertgefühl – ganz zu schweigen von den „unerwünschten Nebenwirkungen für die Eltern-Kind-Beziehung“. Sie fügt hinzu: „Diese Dinge betreffen nicht nur die Entwicklung und das Wohlergehen der Kinder, sondern auch ihren Erfolg als glückliche, seelisch gesunde Erwachsene im Lauf ihres Lebens.“ Ihre Untersuchung der Daten legt eindeutig den Schluss nahe, dass Kinder zwar in verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Bedürfnisse haben, die Auswirkungen einer zu starken Kontrolle jedoch unabhängig vom Alter schädlich sind. Und während Erziehungsstile zwar eindeutig je nach ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Schicht und Kultur variieren, scheint zu viel Kontrolle überall negative Auswirkungen zu haben.28
Natürlich lassen Begriffe wie übermäßig und zu viel die Frage aufkommen, ob es ein ideales Maß an Kontrolle gibt. Meine Antwort lautet, dass es bei dem Versuch, herauszufinden, was für Kinder gut ist, mehr um eine qualitative als um eine quantitative Frage geht. Je nachdem, wie wir Kontrolle definieren, ist es vielleicht sinnvoller, nach Alternativen dazu zu suchen, statt einfach weniger davon einzusetzen. Beispielsweise brauchen Kinder Struktur in ihrem Leben – und manche brauchen mehr als andere –, doch das ist nicht dasselbe wie die Aussage, sie brauchten einfach eine mäßige Menge an Kontrolle.29 Wie können wir diese beiden Dinge voneinander unterscheiden? Gewiss gibt es hier Grauzonen, doch im Allgemeinen werden vernünftige Strukturen nur, wenn sie nötig sind, auf flexible Weise, ohne unnötige Einschränkungen und nach Möglichkeit unter Beteiligung des Kindes geschaffen. Das Ergebnis wirkt ganz anders als bei der Verwendung von Zwang oder Druck zum Durchsetzen des Willens, was man meist unter Kontrolle versteht.
Als Eltern sollten wir über die Einzelheiten im Leben unserer Kinder Bescheid wissen und daran beteiligt sein. Nichts in diesem Buch sollte als Argument dafür interpretiert werden, sich zurückzulehnen und Kinder sich selbst erziehen zu lassen. Wir könnten sagen, es ist unsere Aufgabe, „die Kontrolle zu behalten“, in dem Sinne, dass wir eine gesunde und sichere Umgebung schaffen, Orientierung bieten und Grenzen setzen – aber es ist nicht unsere Aufgabe, „Kontrolle auszuüben“ im Sinne davon, absoluten Gehorsam zu verlangen oder mit Druck oder ständiger Gängelung zu arbeiten. Ja, auch wenn es paradox klingen mag: Wir müssen die Kontrolle darüber haben, ihnen zu helfen, Kontrolle über ihr eigenes Leben zu erlangen. Das Ziel ist Emanzipation statt Konformität und die Methoden sind von Respekt statt von Zwang geprägt.
Es mag Zeiten geben, zu denen ein gewisses Maß an Kontrolle – im üblichen Sinne – unvermeidlich ist, und dann besteht die Kunst tatsächlich darin, es nicht zu übertreiben. Doch wir müssen unser Denken für eine Herangehensweise an die Erziehung öffnen, die sich grundsätzlich von Kontrolle unterscheidet, statt nur einen glücklichen Mittelweg zwischen „zu viel“ und „zu wenig“ Kontrolle finden zu wollen. In Kapitel 9 werde ich einige Vorschläge machen, wie uns das gelingen kann.
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