das Interesse an den grundlegenden Fragen unseres Daseins. Um das Ausmaß des physikalischen Weltbildes jenseits unserer Alltagsrealität nur annähernd begreifen zu können, zieht man sich in einen stillen Raum zurück und steigt mit viel Zeit und Energie tief in die Materie ein.
Unverzüglich tauchten folgenschwere Fragen auf: Was passiert just in diesem stillen Raum mit der Zeit? Warum lassen sich beide von Materie und Energie beeinflussen, die in Gestalt ihrer schattenhaften Geschwister heimlich das kosmische Zepter schwingen?
Dies führt zu dem Ansporn, die komplizierten naturwissenschaftlichen Phänomene verstehen zu können und zu einem verständlichen Weltbild zusammenzufügen, gefolgt von dem Impuls, den Weg der Forscher und die Auswirkung ihrer Einsichten auf unsere Existenz nachzuvollziehen.
Ein Teil der hierbei ausgewerteten Literatur findet sich im Anhang. Juristen gehen bekanntlich den Dingen gerne auf den Grund, der sich hier allerdings bei näherer Betrachtung als unscharf und wenig tragfähig erweist sowie an die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft führt.
Als Leser dieses Buches brauchen Sie keine physikalischen Vorkenntnisse. Neugierde und die Fähigkeit, zu staunen, sind ausreichende Voraussetzungen.
Es besteht die Gefahr, dass sich Ihr Weltbild verändert. Aber damit passiert nichts anderes, als das, was diese Welt nun einmal antreibt. πάντα ῥεῖ – alles fließt.
Noch vor Weitergabe des Manuskriptes an den Verlag haben viele das Werk gelesen und mir nützliche Hinweise gegeben, die der Verständlichkeit zugutegekommen sind. Stellvertretend für alle Testleser möchte ich mich bei Claudia Casper bedanken, die mir auch bei der Endfassung hilfreich zur Seite stand.
Ganz besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Paul Fumagalli, Institut für Experimentalphysik, Universität Berlin, für die sorgfältige Durchsicht des Manuskriptes und die wertvollen Hinweise.
Außerordentlich dankbar bin ich meiner Familie für die Geduld mit dem wissbegierigen Autor.
Berlin im Sommer 2016
Volkmar Jesch
SAMSTAG
Ein ko(s)mischer Unfall
Die Reise gleicht einem Spiel;
es ist immer Gewinn und Verlust dabei
und meist von der unerwarteten Seite.
Johann Wolfgang von Goethe,
Dichter und Naturforscher
Sintflutartiger Regen prasselte auf Blech, anfangs klang es melodisch, als ob ein Klavierspieler stakkato spielen würde, mit einem rhythmischen Abstoßen der Finger von den Tasten, und dann hörte es sich eher an wie ein unablässiges Trommelfeuer in einer Schlacht. Abertausende Wassertropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe, wurden in kleinere Tröpfchen zerlegt, bevor sie von den Scheibenwischern weiter in Richtung Autobahn gedrückt wurden, wo ihre gravitationsbedingte Reise ein abruptes Ende fand. Immer mehr Regentropfen suchten den Weg zur Erde, als ob der Himmel alle seine Schleusen geöffnet hätte. Es war Abend, tief hängende, regenschwere Wolken bedeckten den Himmel, und doch war es nicht dunkel. Der Wasserfilm auf dem Metall und dem Glas der Autos, ebenso wie die Wasserschicht auf der Fahrbahn, reflektierten das helle Licht der Scheinwerfer, gepaart mit dem roten Licht der Heckleuchten der vorausfahrenden Fahrzeuge. Es war ein zittriges Bild vorwärtsstrebender Automobile, das die Lichtstrahlen im Gehirn der Insassen projizierten.
Lea hatte ihre Fahrweise den widrigen Umständen angepasst und würde die Autobahn bald verlassen. Es ging in den Skiurlaub. Bei diesem Tempo dürfte sie in einer knappen Stunde an ihrem Zielort inmitten der italienischen Alpen sein, wie ihr das Navigationssystem bescheinigte. Endlich. Sie freute sich auf schneebedeckte Berge, in der Sonne glitzernde Pisten und ahnte nicht die Katastrophe, die sich anbahnte.
Plötzlich schaltete ihr Bewusstsein um auf Zeitlupenmodus. Ihre Aufmerksamkeit wurde gefangen von einem Wassertropfen, der scheinbar entgegen jeder Schwerkraft erst die Windschutzscheibe emportippelte und sich dann kreiselnd in Richtung Himmel verabschiedete. Ein kleiner Moment für die Ewigkeit, würde sie später denken, wie ihr ein winziger Wassertropfen, aller Schwerkraft trotzend, die grundlegende Veränderung ihres Lebensweges ankündigte.
Ein pinkfarbener Lippenstift segelte im Schneckentempo an ihr vorbei, sich gemächlich um seine Achse drehend, gefolgt von einem torkelnden Eyeliner und der offenen Handtasche, an Langsamkeit kaum noch zu überbieten.
Im Bruchteil einer Sekunde war sie von fliegenden Gegenständen umgeben, die ihre plötzliche Beschleunigung durch eine auf das Heck des Wagens wirkende Kraft erhalten hatten. Sie hörte den Regen nicht mehr, nur noch den Knall, verursacht durch den Aufprall des nachkommenden Fahrzeuges, spürte die schleudernde Bewegung, in die ihr Auto versetzt wurde und der sie machtlos ausgesetzt war.
Es war aber irgendwie mehr als die Bewegung des Wagens im Raum oder das Umherschwirren der Gegenstände in der Fahrgastzelle des Autos. Sie war im Zentrum des Geschehens, alles drehte sich um sie, sie war die einzige Konstante in einer Umgebung, wo die Dinge einer neuen Kraft gehorchten. Die Leitplanke kam auf sie zu. Schlimm fand Lea das nicht, in diesem Moment eher komisch. Wieso bewegte sich die Leitplanke, und sie selbst verharrte im Raum?
Dann war auf einen Schlag alles dunkel in ihr. Die Verformung von eineinhalb Tonnen Blech, einhergehend mit einer plötzlichen Hitzeentwicklung, bekam sie schon nicht mehr mit.
SONNTAG
Nur weg von hier
Das Gestern ist fort – das Morgen noch nicht da.
Leb also heute.
Pythagoras,
griechischer Mathematiker und Philosoph
Alles war schön warm und weich. Eine unendliche Ruhe umgab sie. Vorsichtig öffnete Lea die Augen. Sie musste blinzeln. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite, um der direkten Sonneneinstrahlung zu entkommen.
Sie lag in einem Bett, alles war weiß um sie herum, die Bettdecke, ein Stuhl, die Wand. Sie drehte sich auf die andere Seite. Auch draußen vor dem Fenster war alles weiß. Schnee! Was war mit ihr geschehen? Wo war sie? In diesem Moment ging die Tür auf. Eine Krankenschwester betrat das Zimmer. Oh Gott, ein Krankenhaus, bestimmt ist sie schwer verletzt, dachte Lea.
»Ich sehe, Sie sind wieder wach geworden, schön«, sagte die Schwester, die einen angenehmen italienischen Akzent hatte. »Bei Ihrer Einlieferung waren Sie sehr aufgeregt und brauchten Ruhe. Sie haben die ganze Nacht durchgeschlafen und den Vormittag auch. Es ist jetzt mittags, 12:30 Uhr.«
»Moment, was ist denn passiert?«, fragte Lea und kramte in ihrem Gedächtnis nach Erinnerungen. »Ich kann mich an nichts Schlimmes erinnern. Ich habe Urlaub, bin auf dem Weg in die Berge und …«, stammelte sie.
»… und Sie hatten einen Unfall«, vervollständigte die Schwester den Satz. »Jemand ist auf Ihr Auto aufgefahren. Sie sind aber nur leicht an der Schulter verletzt, deswegen haben wir Ihnen einen Verband angelegt. Und Sie haben eine kleine Beule am Kopf. Haben Sie Schmerzen?«
»Nein«, antwortete Lea und bemerkt erst jetzt den Verband am rechten Arm.
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sie sich an den Unfall und die unmittelbare Zeit danach nicht erinnern«, sagte die Schwester. »Sie hatten eine temporäre Amnesie. Das kommt häufig vor.«
Lea richtete sich langsam im Bett auf, was mühelos und ohne Schmerzen gelang. Sie tastete die Schulter, den Arm und die Beule ab, auch schmerzfrei. Wenigstens etwas. Sie beruhigte sich und sagte: »Ich bin auf dem Weg in den Skiurlaub. Ich möchte so bald wie möglich weiterfahren. Wann kann ich die Klinik verlassen? Die paar Schrammen sind doch nicht der Rede wert. Und Schmerzen habe ich keine.«
»So schnell geht das nicht«, sagte die Krankenschwester, »die Ärzte bestehen auf eingehenderen Untersuchungen, die erst am morgigen Montag stattfinden können. Außerdem ist Ihr Auto sicherlich nicht fahrbereit.«