Und sie war schon immer fasziniert von Zeitreisen, sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit, nicht erst, nachdem ihre Eltern viel zu früh gestorben waren und sie gerne in der Zeit zurückgesprungen wäre, um nochmals mit ihnen zu sprechen. Sie hätte ihnen noch so viel zu sagen gehabt.
Irgendwann in ihrer frühesten Jugend hatte sie »Die Zeitmaschine« im Fernsehen gesehen, den wundervollen Film, der Anfang der 60er-Jahre mit Rod Taylor in der Hauptrolle gedreht worden war. Darin konnte man in einer Zeitmaschine Platz nehmen und mit einer Hebelbewegung in der Zeit vorwärts- aber auch rückwärtsreisen. Mit der beschleunigt ablaufenden Zeit entwickelte sich die Welt um die Apparatur weiter, während man selbst mit der Maschine am gleichen Ort blieb. Die blinkenden Lichter der Anzeigen, die rotierende Kupferscheibe an der Rückseite der Maschine und der mit rotem Plüsch bezogene Sessel hatten der Maschine das würdige Dekor verliehen, um damit der Zeitlinie entlangzusausen.4
Eine sehr romantische Vorstellung einer Reise in der Zeit, auch wenn sich die Zukunft in dem Film alles andere als verlockend gezeigt hatte. Vermutlich waren die Geschichte und ihre filmische Umsetzung der Auslöser für ihre Faszination für Zeitreisen. Auch eine Folge der US-amerikanischen Serie »The Big Bang Theory« war dem Thema der Zeitmaschinen gewidmet gewesen. Sie hatte sie zufällig gesehen. Die eingesetzte Zeitmaschine hatte der Apparatur aus dem Film in den 60er-Jahren sehr ähnlich gesehen.
Oft hatte sie über die märchenhaften Möglichkeiten nachgedacht, die sich eröffnen würden, wenn die Zeit manipulierbar wäre. Könnte ihr jetzt ein Zeitsprung Wege eröffnen, die Vergangenheit zu ändern, hin zu einer positiven Wendung ohne Unfall? Träumereien, oder gab es doch eine Chance? In jedem Fall war die Frage geeignet, ihn von seinem hohen Ross herunterzuholen.
Seltsam, diese Zeit
Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft,
denn in ihr gedenke ich, zu leben.
Albert Einstein,
Physiker
Ihr Gegenüber war von der fantastischen Idee eines Zeitsprungs offensichtlich unbeeindruckt. Ruhig und klar antwortete er, wobei sie aus seiner Antwort ein kleines Lob heraushörte.
«Interessante Idee, wie alle Überlegungen, die sich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigen.«
Doch gleich folgte die Einschränkung. »Leider ist eine Reise in die Vergangenheit völlig unmöglich. Eine Zeitumkehr missachtet den Raum und die sich darin abspielenden Vorgänge. Obwohl … nein.« Er schien kurz wankelmütig geworden zu sein, zweifelnd. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen. Sein Blick schien in die Ferne zu schweifen, als er fortfuhr: »Wie stellte schon der Philosoph Heraklit im fünften Jahrhundert vor der Zeitenwende so überaus treffend fest? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Denn es fließe schließlich Wasser, sodass der Fluss sich ständig verändere.5 Mit dieser an sich trivialen Feststellung war Heraklit seiner Zeit weit, sehr weit voraus. Der Lauf der Welt kann nicht rückgängig gemacht werden. Dazu sind zu viele Vorgänge beteiligt.«
Dann wechselte er scheinbar das Thema, tatsächlich holte er nur für das nächste Argument aus, wie sie im Nachhinein feststellte. »Betrachten wir die Situation kurz vor Ihrem Unfall etwas näher und zur besseren Übersichtlichkeit von oben, etwa aus einem Hubschrauber, von dem wir annehmen, dass ihm die schlechten Witterungsbedingungen nichts anhaben können.
Wir sehen eine Straße, auf der sich Autos bewegen. In jeder Sekunde, in jedem Bruchteil einer Sekunde, verändert sich die Position der Automobile, die zum Teil mit hoher Geschwindigkeit über die Schnellstraße fahren. Stellen wir uns weiter vor, dass wir auch die Nebenstraßen beobachten. Darauf bewegen sich andere Fahrzeuge, die permanent, wenn auch etwas langsamer, ihren Aufenthaltsort verändern. Tagsüber würden noch Schmetterlinge neben und Vögel über den Autos fliegen. Jetzt in der Nacht tun die vielen Tropfen aufgrund des Regenfalls zum Unfallzeitpunkt ein Übriges. In jedem Moment sehen wir ein anderes Bild, weil viele Teile, die es ausmachen, ihre Position verändern.«
Sie entgegnete: »Worauf wollen Sie hinaus? Das passiert doch überall auf der Erde, in jedem Moment.«
»In der Tat! Nicht nur auf der Erde, sondern auch in unserem Sonnensystem, wo sich die Planeten um die Sonne drehen, in der Milchstraße, die um ihr Zentrum kreist, und in den anderen Galaxien. Die Erde ist in jedem Bruchteil einer Sekunde an einem anderen Ort im Kosmos, zusammen mit allen Gegenständen, die ihr aufgrund der Gravitation anhaften, und so die Erde auf ihrer Reise durch das Weltall begleiten.«
Eindringlich erhob er seine Stimme: »Das alles wollen Sie stoppen und mit Ihrer Zeitreise wieder rückgängig machen? Sie wollen das Universum anhalten?«
Sie wollte ihn unterbrechen, er ließ es aber nicht zu: »Die Erde rotiert mit einer mittleren Geschwindigkeit von 29,78 Kilometern pro Sekunde um die Sonne, ist also in einer Stunde 107.218 Kilometern weitergekommen. Unser Sonnensystem dreht sich mit circa 275 Kilometern pro Sekunde um das Zentrum unserer Galaxie, was in einer Stunde nochmals knapp eine Million Kilometer ausmacht. Wo also würde sich ein Zeitreisender befinden, wenn er nur eine Stunde zurück in der Zeit ginge?«, fragte er, wobei er die Wanderung der Milchstraße durch das Weltall noch gar nicht erwähnt hatte. »Und was würde mit den am Zielort befindlichen Molekülen, Atomen und subatomaren Teilchen geschehen, wenn der Zeitreisende ankäme? Wenn er aus dem Nichts irgendwo auftauchen wollte, hätte er der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Ort seiner Materialisation bereits von Materie besetzt wäre. Und …«
»Moment!«, fuhr sie dazwischen. Einerseits war sie von der Radikalität seiner Ausführungen hingerissen. Andererseits ging ihr die Konsequenz seiner Überlegungen doch entschieden zu weit. War ihr Gesprächspartner nicht in der Lage, zu abstrahieren und die Vorgänge in den letzten 24 Stunden begrenzt auf eine Region von vielleicht 100 Kilometern Umkreis isoliert zu betrachten?
Wenn die Gegenstände aufgrund der Gravitation der Erde anhaften, wie er so schön gestelzt gesagt hatte, war es doch egal, wo die Erde gerade im Weltraum herumschwirrte. Warum den Vorgang überhaupt auf eine bestimmte Region der Erde eingrenzen? Eigentlich ging es doch nur um sie, um einen einzigen Menschen. Hätte sie zum Zeitpunkt des Unfalls nicht ihr Fahrzeug gesteuert, sondern es vielleicht betankt, sich in der unmittelbaren Zeit vor dem Unfall nur etwas anders verhalten, oder wäre sie morgens gar nicht aufgestanden, wäre das zur Unfallverhinderung doch schon ausreichend gewesen.
Etwas trotzig entgegnete sie: »Sehen Sie die Dinge nicht vielleicht zu global? Streng genommen geht es doch nur um meine Person. Ich war zu einem Zeitpunkt am falschen Ort. Fast jeder andere Ort wäre besser gewesen. Es hätte doch gereicht, wenn nur ich von der Zeitveränderung betroffen gewesen wäre. Wenn ich am Zielort meiner Zeitreise ankomme, muss halt das bisschen Materie weichen. Luft ist doch beweglich. In jedem guten Science-Fiction-Film ist von Zeitreisen, Zeitanomalien und vergleichbaren Phänomenen die Rede. Ich gebe zu, das ist Science-Fiction, und viele Filme habe ich von diesem Genre noch nicht gesehen, aber die dort gezeigten Zeiteffekte sollen doch einen realen physikalischen Hintergrund haben. So gesehen würde ich mich durch die Zeit bewegen.«
»Science-Fiction?« Er schmunzelte. »Sie können sich nicht abkoppeln vom Rest des Universums. Auch Ihr Unfall war ein kosmisches Ereignis, und die Folgen des Unfalls werden das Universum noch über Jahre hinaus beschäftigen.«
»Das Universum beschäftigt sich mit mir? Ich kenne doch das Universum überhaupt nicht. Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden«, sagte sie mit spöttischem Unterton.
»Da wird es Zeit«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das Universum kennt Sie aber. Sie können es mir glauben, die Kunde von Ihrer Geburt und der Verlauf Ihres Daseins sind längst um die Welt gegangen.«
Ich bin berühmt, dachte sie. Nein, Scherz beiseite. Das Gespräch nahm offensichtlich eine spirituelle Wendung, die ihr gar nicht behagte. Doch da hatte sie ihn gewaltig unterschätzt. Er meinte seine Aussage ernst und konnte sie auch belegen.
»Was hat mein simpler Unfall mit dem Universum zu tun?«, wandte sie noch schnippisch ein.
»Jede Menge.« Er lächelte vielsagend.