Charles Fernyhough

Selbstgespräche


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seit nahezu vierzig Jahren entwickelt, auf die meisten Aspekte seines Lebens ausgewirkt. Er hat eine Art und Weise des Umgangs mit Menschen entwickelt, der rücksichtsvoll, zugewandt, aufmerksam und unvoreingenommen ist. Doch Russ kann nicht sagen, ob er infolge der vielen Jahre, in denen er die DES-Methode anwendet, so geworden ist oder ob die DES diese Qualitäten ihres Entwicklers widerspiegelt. Er ist ein vorbildlicher Zuhörer und ein außergewöhnlich aufmerksamer Befrager. »Die Einklammerung aller Vorurteile geht bei mir ziemlich tief«, erzählt er mir. »Die Methode und ich sind eng miteinander verflochten.«

      Und welche Auswirkung hat die DES auf diejenigen, die an der Untersuchung teilnehmen? Wenn man den Details der Erfahrungen anderer Menschen so viel Aufmerksamkeit schenkt, verändert sich der Blick auf das farbenfrohe Spektakel des geistigen Lebens des Menschen automatisch. Als Lehrling der DES-Befragung, der inzwischen viele Stunden zugehört hat, wie Menschen ihre Gedanken und Gefühle sehr detailliert beschreiben, hat mir dies eine ähnliche Freude bereitet wie das Lesen von Romanen. Eine der Aufgaben, die Romanschriftstellern und Verfassern von Kurzgeschichten Vergnügen bereitet, ist die Rekonstruktion eines Bewusstseins auf dem Papier. Wenn man einem großen Schriftsteller zusieht, wie er die Details der Erfahrung einer Figur niederschreibt, ist in etwa die gleiche Aufmerksamkeit zu erkennen.

      Für diejenigen, die über ihre Erfahrungen berichten, können die Auswirkungen sogar noch tief greifender sein. Die DES kann ein paar eindrucksvolle Beweise liefern, wie die eigenen Vorurteile über die persönlichen Erfahrungen über den Haufen geworfen werden können. Ruth, eine Untersuchungsteilnehmerin, sagte, dass die Teilnahme an der DES-Studie bei ihr mehr Bewusstsein für den Augenblick geweckt und ihr einen Anhaltspunkt geliefert hat, welche Art von Geist sie besitzt, obwohl sie den Prozess anstrengend fand. Der Rückblick auf die Momente des Piepstons offenbarte, dass sie im Allgemeinen viel fröhlicher war, als sie vermutet hatte, und dass sie sich in einem Maß an kleinen Dingen erfreute – wie zum Beispiel an dem Verhalten von zwei ihr vertrauten Rotkehlchen in ihrem Garten –, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.

      Russ selbst hat seit beinahe vier Jahrzehnten beobachtet, welche Wirkung seine Methode auf die Menschen hat. »Die häufigste Antwort der Menschen, die diese Methode angewandt haben, lautet: ›Ich habe mehr über mich selbst erfahren als jemals zuvor, weder durch meine Frau, den Barmann meiner Lieblingskneipe oder meinem Psychologen, bei dem ich seit fünf Jahren in Behandlung bin.‹ Und das ist an sich ziemlich bemerkenswert, weil wir nichts anderes getan haben, als den Versuch zu unternehmen, einen sehr genauen Blick auf die 25 Millisekunden ihrer Erfahrung zu werfen.« Für manche Menschen ist die Anwendung der DES-Methode »wirklich lebensverändernd«, so Russ.

      Und zugleich stellen solche Methoden eine gewaltige Herausforderung für diejenigen dar, die das menschliche Erleben wissenschaftlich untersuchen wollen. Was hat es zu bedeuten, wenn man feststellt, dass jemand wie Ruth mit einer falschen Vorstellung ihres eigenen Erlebens die Untersuchung antreten kann? Was die innere Sprache anbelangt, so hat Russ viele Fälle erlebt, bei denen Menschen die DES mit der vorgefassten Meinung begannen, dass ihr Kopf voller Wörter ist (ich würde wahrscheinlich mit der gleichen Vorstellung starten), nur um dann herauszufinden, dass ihre Erfahrung tatsächlich gar nicht sehr verbal abläuft. Wie ist es möglich, dass ich mich »täuschen« kann, was in meinem eigenen Kopf vor sich geht? Eine andere Ansicht, nämlich dass ich darüber, was sich bei meiner Erfahrung abspielt, gar nichts mit Sicherheit wissen kann, scheint ebenso bizarr zu sein – doch genau zu dieser Schlussfolgerung sind einige Kritiker der Introspektion gelangt. Eines ist sicher: Wenn wir eine wissenschaftliche Untersuchung der Stimmen in unserem Kopf durchführen wollen, benötigen wir etwas wie die sorgfältige Beobachtung unserer alltäglichen, flüchtigen Erlebnismomente, etwas wie die DES-Methode.

      KAPITEL 3

      DIE QUASSELSTRIPPE

      Nick Marshall kann die Gedanken von Frauen lesen. Nick (gespielt von Mel Gibson), der durch einen tragischen Unfall (Föhn, Badewanne) in seiner Wohnung in Chicago einen Stromschlag erlitten hat, erwacht mit der unheimlichen Fähigkeit, sich in die Gedanken der Frauen um ihn herum einklinken zu können. Der Film hat den Titel Was Frauen wollen, und die Handlung dreht sich darum, was passiert, wenn die Gesetze der geistigen Privatsphäre außer Kraft gesetzt werden. Für einen arroganten und chauvinistischen Werbefachmann wie Nick ist das Lesen der Gedanken von Frauen ein willkommener Trick. Er hilft ihm nicht nur, die Zahl seiner ohnehin schon beeindruckenden Eroberungen zu erhöhen, sondern ermöglicht es ihm darüber hinaus, die besten Ideen seiner Chefin zu stehlen und sie als seine eigenen auszugeben. Es handelt sich um eine Filmkomödie aus Hollywood, und die Geschichte von Nicks moralischer Herausforderung und allmählicher Humanisierung ist gespickt mit freundlichen Erinnerungen an die Werte, die es sich nicht lohnt, der Karriere zuliebe aufs Spiel zu setzen. Diebstahl ist falsch, aber es hat etwas besonders Abstoßendes, sich mit Gedanken aus dem Staub zu machen, deren Fehlen der Besitzer nicht einmal bemerken kann.

      Wie andere Beschreibungen der Kunst der Telepathie erinnert uns auch Was Frauen wollen daran, wie sehr unsere geistige Gesundheit davon abhängig ist, dass unsere Gedanken anderen Menschen nicht zugänglich sind. Wir sehen Nick seine neuen Kräfte zum ersten Mal nutzen, als er nach dem Unfall durch den Föhn in seinem Apartment aufwacht. Seine Putzfrau hat ihn ohnmächtig auf dem Boden liegend gefunden und überlegt, ob er tot sein könnte. Doch ihre Überlegungen sind nicht mehr privat, so wie bisher, sondern Nick hört sie, als würden sie laut ausgesprochen. In dieser speziellen fiktionalen Welt ist das Denken eine Art von Sprechen, ein Sprechen, das (unter normalen Umständen) nur der Denkende hören kann. Nick hört den Gedankenstrom eines anderen Menschen in einer Stimme mit bestimmten Eigenschaften, die Wörter kombiniert, um einen Sinn zu ergeben, so, wie es bei der gesprochenen Sprache der Fall ist.

      Vom Soundtrack einmal abgesehen ist ein Film ein intensives visuelles Werk. Nichts würde Regisseure davon abhalten, Gedanken als visuelle Bilder darzustellen – als Mini-Filmclips zum Beispiel, die über dem Kopf einer Figur ablaufen. Doch weder beim Film noch in den anderen Medien wird es gewöhnlich so gehandhabt. Wenn man die Gedankenblasen in einem Comic oder Bildroman betrachtet, sieht man, dass die Gedankenprozesse der Figuren als sprachliche Äußerungen dargestellt sind. Denken ist eine Stimme, so wird uns vermittelt, nämlich die Stimme des Selbst. Es handelt sich um einen stummen Monolog, der, würde er laut ausgesprochen, von jedem verstanden werden könnte, der unsere Sprache beherrscht.

      In den folgenden Tagen wandelt sich Nicks Einstellung seinem Gedankenlesen gegenüber von Entsetzen hin zu Akzeptanz. Es gibt eine lustige Szene, in der Nick in dem Bemühen, weitere Beweise zu sammeln, die seinen schrecklichen Verdacht in Bezug auf seine neuen Fähigkeiten bestätigen, den Gehirnströmen seiner beiden hohlköpfigen Sekretärinnen lauschen will, aber feststellt, dass dort absolute Funkstille herrscht. In einer anderen denkwürdigen Szene kann Nick nicht verstehen, was seine Chefin, Darcy, sagt, weil sie zugleich mit Gedanken beschäftigt ist. Denken erfolgt sprachlich, aber was wir denken, ist nicht das Gleiche wie das, was wir sagen. Die Stimme von Darcys Bewusstsein liest von einem anderen Skript als ihre echte Stimme. Aber es handelt sich unverkennbar um eine Stimme. Als Darcy mitten in der Nacht Nick anruft und es dann doch nicht wagt, dem Kollegen, für den sie schwärmt, laut etwas zu sagen, hat Nick das außergewöhnliche Erlebnis, sie am Klang ihrer Gedanken zu erkennen.

      Abgesehen von der zweifelhaften Genderpolitik werden in Was Frauen wollen auch bestimmte Dinge über das innere Erleben falsch dargestellt. Wenn wir in einer frühen Szene die Gedanken der Latina-Putzfrau hören, denkt sie in Englisch, obwohl es plausibler wäre, sie würde in ihrer Muttersprache denken. Es stellt sich heraus, dass zwei schwerhörige Frauen, die sich mithilfe von Gesten miteinander unterhalten, in gesprochenem Englisch denken, anstatt in ihrer Gebärdensprache, was wohl wahrscheinlicher wäre. Tatsächlich stellen Gehörlosigkeit und andere Erkrankungen, durch die die normale verbale Kommunikation gestört wird, eine heikle Herausforderung für das Verständnis der Beziehungen zwischen Sprechen, Sprache und Denken dar, wie wir später sehen werden, wenn wir uns mit den Beweisen der inneren Stimmen gehörloser Menschen befassen.

      Wenn wir die hohen und niederen Künste verlassen und betrachten, wie Gelehrte den Prozess des Denkens beschrieben haben, finden wir weitere Bestätigungen von dessen enger Verbindung mit Selbstgesprächen. »Für viele von uns«, schreibt der Philosoph Ray Jackendoff, »hört der laufende Kommentar kaum jemals