Charles Fernyhough

Selbstgespräche


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Bäcker immer schön frisch sind.

      »Was ich mache? Ich baue eine Fahrbahn und stelle Autos darauf.«

      Sie hat ein paar gebogene Straßenteile und eine Kreuzung zusammengesteckt, und jetzt könnte sie ein bisschen Verkehr gebrauchen.

      »Ich brauche Autos darauf.«

      Sie kriecht auf den Knien zur Tüte und greift hinein. Die Tüte ist riesig, doppelt so groß wie sie. Hineinzukriechen ist, als würde sie den Nikolaussack plündern. Sie holt ein weiteres Straßenstück heraus und versucht, es in das wachsende Straßennetz einzufügen, aber die kleinen Plastikstücke sind schwierig zusammenzustecken.

      »Ich baue eine Fahrbahn und stelle Autos darauf. Zwei Autos.«

      Diese letzte Feststellung legt den Schluss nahe, dass sie ein Auto zu einem bereits vorhandenen hinzufügen möchte. Aber sie hat noch keine Fahrzeuge herausgeholt. Sie ist noch immer mit dem Bau der Straße beschäftigt. Der Gedanke, dass sie zwei Autos braucht, ist nur das: ein Gedanke.

      »Dieses Stück ist schwierig.« Sie versucht noch einmal, die Teile zusammenzusetzen, und dieses Mal fügen sie sich ein. »Da!«

      Jetzt kehrt sie mit erhobenem Zeigefinger zur Tüte zurück. Ihre Miene ist lehrerhaft und streng, als würde sie versuchen, eine Klasse aufmüpfiger Schüler in Schach zu halten.

      »Noch ein Stück …«

      In gewisser Weise ist das, was meine Tochter Athena gerade macht, gar nicht so weit entfernt von dem, was Michael berichtete, an der Schlaglinie zu tun. Der Unterschied besteht darin, dass sie keine Profisportlerin und noch nicht einmal erwachsen ist. Sie ist zwei Jahre alt. Falls es sich um eine ähnliche Art von Selbstgespräch handelt, dann hat sie sehr früh damit begonnen.

      Wie beim Sportler scheint auch Athenas Selbstgespräch verschiedene Funktionen zu erfüllen. Es ist insofern selbstregulierend, als sie im Voraus plant, was sie tun wird. Sie äußert den Gedanken zwei Autos, bevor auch nur ein einziges Auto zu sehen ist. Genau wie der Schlagmann seine Innings plant, wenn er zum Schlagen auf den Platz geht oder nach dem Ausscheiden seine Lehren für das nächste Match zieht, so denkt das Kleinkind Dinge mithilfe von Wörtern, und diese Wörter formen und steuern sein Verhalten.

      Athenas Sprechen scheint darüber hinaus eine Rolle bei der Regulierung ihrer Gefühle zu spielen. Wenn das Zusammensetzen schwierig wird, muntert sie sich selbst auf. »Dieses Stück ist schwierig«, sagt sie zu sich selbst, als sie versucht, die Straßenteile zusammenzustecken, und scheitert. Als es ihr gelingt, gestattet sie sich einen kleinen Glückwunsch: »Da!«

      Im Alter von zwei Jahren sind die meisten sich normal entwickelnden Kinder Sprachexperten und nutzen die Sprache sehr häufig in dieser an sich selbst gerichteten Art und Weise. Durch die Beobachtung, wie sich das Selbstgespräch früh im Leben etabliert, können wir viel darüber erfahren, woher diese Stimmen in unserem Kopf kommen und in was sie sich verwandeln. Tatsächlich erhalten wir ein paar sehr wichtige Hinweise darauf, was die innere Sprache tatsächlich ist.

      Auch Lew spricht zu sich selbst. »Ich möchte dieses Bild da machen … Ich möchte etwas malen, genau. Ich werde ein großes Stück Papier brauchen, um das zu machen.«44

      Wir sind in den 1920er-Jahren in Genf. Lew ist eines der Kinder aus der Maison des Petits de l’Institut Rousseau, einer Vorschuleinrichtung des Institut Rousseau, die von 1921 bis 1925 von dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget geleitet wird. Piaget interessiert sich dafür, wie Lews Monologe und die anderer Kinder die Sprache ohne soziale Absicht zu nutzen scheinen. Mit Piagets Worten: »Lew ist ein kleiner Kerl, der sehr auf sich selbst bezogen ist.« Piaget erzählt uns, dass Lew im Alter von sechs Jahren kognitiv noch nicht in der Lage ist, die Perspektive der Person, mit der er zu kommunizieren versucht, zu berücksichtigen.

      Piaget betrachtet diese Art von Sprechen als Beweis für den Egozentrismus des Kleinkindes: seine Neigung, in seiner eigenen Sichtweise verhaftet zu bleiben. Es handelt sich um Versuche, einem anderen etwas zu sagen, aber sie misslingen, weil das Kind seine Äußerungen nicht dem anpassen kann, was der andere denkt, weiß und glaubt. »In solchen Fällen«, schreibt Piaget, »kommuniziert die Sprache nicht die Gedanken des Sprechenden, sie dient dazu, sein Handeln zu begleiten, zu verstärken oder zu ergänzen.«45 Die Äußerungen des Kindes formen nicht die Handlung oder dienen nicht zur Ermunterung oder Stimulation; sie begleiten lediglich, was vor sich geht.

      Zur gleichen Zeit beobachtet ein anderer Psychologe in Moskau Kinder, die mit sich selbst sprechen. Auch Lew Wygotski sieht Kinder, die ihre Aktivitäten kommentieren, doch im Gegensatz zu Piaget betrachtet er diese Äußerungen nicht als reine Begleitmusik zu ihren Handlungen. Das, was man in Genf als »egozentrisches Sprechen« bezeichnet, ist für Wygotski ein Mittel, um eine bestimmte Art von Verhalten zu ermöglichen.46

      Wygotski stellt zum einen fest, dass Kinder häufiger zu sich selbst sprechen, wenn sie bei ihrer Aktivität auf ein Hindernis stoßen. (Ein Trick besteht darin, sicherzustellen, dass dem Kind genau der Stift in der Farbe fehlt, die für eine bestimmte Malaufgabe benötigt wird.) Hätte die innere Sprache keine Funktion, dann müsste sie von Schwierigkeiten bei bestimmten Aufgaben unbeeinflusst sein. Doch Wygotskis Kinder verwenden ihre Selbstgespräche tatsächlich, um einen Plan für eine Lösung des Problems zu entwerfen. Als ein Kind feststellte, dass ein benötigter blauer Malstift fehlte, sagte es zu sich: »Wo ist der Stift? Ich brauche jetzt einen blauen Stift. Nicht da. Ich werde es stattdessen rot anmalen und Wasser darübertun – dadurch wird es dunkler und eher wie blau.«

      Wygotski machte viele weitere Beobachtungen, die den Schluss nahelegen, dass die Selbstgespräche von Kindern eine funktionale Rolle spielen. Ein fünfjähriger Junge malte gerade eine Straßenbahn, als sein Stift abbrach. »Abgebrochen«, sagte er leise – dann legte er den Stift nieder, griff nach einem Pinsel und malte einen beschädigten Straßenbahnwagen, der nach einem Unfall gerade repariert wurde. Dieses Kind nutzte seine Sprache, um den Kurs seiner Handlung zu ändern. Es dachte laut.

      Oberflächlich betrachtet handelt es sich um sehr unterschiedliche Ansichten über die Selbstgespräche von Kindern. Piaget und Wygotski lasen jeweils die Werke des anderen, kommentierten sie und schätzten sie sehr. Aber sie waren über die private Rede der Kinder, wie man sie heute nennt, gegensätzlicher Meinung und betrachteten ihre Bedeutung unterschiedlich.

      Zum einen hatten sie eine unterschiedliche Auffassung vom Eintritt des Kindes in die soziale Welt. Piaget betrachtete das Kleinkind als egozentrisch, als »in seiner eigenen Ansicht zu verhaftet«,47 um in der Lage zu sein, sich voll auf soziale Interaktionen einzulassen. Wygotski sah dies ganz anders. Seiner Ansicht nach ist das Kind von seinem ersten Lebenstag an in soziale Beziehungen eingebunden. Die Entwicklung der Sprache gibt ihm ein Mittel, um mit anderen zu kommunizieren, und die daraus entstehenden Dialoge bilden die Grundlage für seine späteren privaten Gespräche mit sich selbst und letztlich für seine innere Sprache.

      Ich habe einen großen Teil meiner Karriere als Psychologe mit Überlegungen über die Bedeutung von Wygotskis Schriften über die soziale, private und innere Sprache verbracht. Und ich halte sie für die beste uns zur Verfügung stehende Beschreibung, woher die Stimmen in unserem Kopf kommen, warum sie ihre jeweiligen Qualitäten besitzen und weshalb es für uns selbst als Erwachsene noch wertvoll ist, laut mit uns selbst zu sprechen. Gleichwohl ist Wygotskis Theorie lückenhaft. Er hatte nur eine kurze Karriere als Psychologe, weil er schon im Alter von 37 Jahren an Tuberkulose starb. Seine Schriften über die Sprache und das Denken sind an manchen Stellen mehrdeutig und unklar. Doch viele seiner Erkenntnisse wurden von neueren Forschungsergebnissen bestätigt: mithilfe von Studien, die beobachteten, was Kinder beim Spielen oder Erledigen von Aufgaben zu sich selbst sagen, sowie durch Untersuchungen der stummen inneren Sprache von Erwachsenen.

      Zurück in Athenas Zimmer: Noch immer nehme ich ihren Straßenbau mit der Videokamera auf. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, dass ich da bin. Zugleich vermute ich, dass meine Anwesenheit sie zum Sprechen anregt, auch wenn sie nicht zu mir spricht. Sie würde weniger sprechen, denke ich, wenn ich nicht da wäre. Das ist tatsächlich genau das, was Wygotski herausfand: Als er Kinder mit anderen zusammenbrachte, die eine andere Sprache sprachen, sank das Verhältnis