Godehard Brüntrup

Theoretische Philosophie


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Beispiel: Etwas ist wasserlöslich. Unter bestimmten Bedingungen, wenn es in Wasser gegeben wird, löst es sich auf. Aber die Naturwissenschaften sagen uns nicht, was überhaupt eine Möglichkeit ist. Die Metaphysik beschäftigt sich damit.

      Oder in den Naturwissenschaften beschreiben wir Veränderungen. Normalerweise mit Differentialgleichungen. Aber die Frage ist: Was ist überhaupt Veränderung? Denn wenn sich etwas verändert, muss es ja in bestimmter Weise dasselbe bleiben, sonst hätten wir nicht eine Veränderung, sondern das Auftauchen von etwas völlig Neuem. Und unter anderer Rücksicht muss es sich ändern, sonst haben wir eben einfach nur dasselbe. Wie ist dieses Zusammenspiel von Gleichbleiben, Identität bewahren und die Identität nicht bewahren, neue Eigenschaften zu bekommen, bei Veränderungen zu verstehen? Was ist überhaupt Veränderung? Das wär eine Frage, die die Metaphysik stellt.

      Klassisch gesehen hat man neben dieser allgemeinen Metaphysik drei spezielle Metaphysiken unterschieden, oder neben der klassischen Metaphysik gab es diese drei Disziplinen der speziellen Metaphysik, nämlich Gott, Seele und Kosmos. Diejenige, die sich mit Gott beschäftigt, die Metaphysik des Absoluten oder die philosophische Gotteslehre fragt nach der Metaphysik des absolut notwendig Seienden. Die Metaphysik der Person oder der Seele fragt: Was heißt es überhaupt eine Person zu sein? Und dazu gehört auch – das ein eigener Gegenstand dieser Vorlesung– was ist das Verhältnis von Körper und Geist, das Leib-Seele-Problem. Und die Metaphysik des Kosmos ist die Frage nach den philosophischen Problemen, die sich aus der Kosmologie, aus der Astrophysik und verwandter Gebiete ergeben. In dieser Vorlesung werde ich diese spezialen Metaphysiken wenig berühren, außer der Metaphysik der Person. Ich behandle hier primär die Frage: Was sind die allgemeinsten Strukturen der Wirklichkeit? Und ein wenig auch die Frage, was ist unser Platz als Mensch, als Menschen in dieser Wirklichkeit.

      Eine eigene Vorlesung in dieser Reihe wird der Frage gewidmet sein: Gibt es Freiheit? Was ist der metaphysische Freiheitsbegriff?

      Nun hatte ich Ihnen gesagt, dass die Metaphysik ihrer Methode nach der Mathematik verwandter ist als der Physik. Die Mathematik kann man ja betreiben, indem man die Augen schließt und zum Beispiel über den Begriff des Dreiecks oder den Begriff der Primzahlen nachdenkt. Und diesen Begriff analysiert. Die Methode der Mathematik ist von daher Begriffsanalyse. Die Metaphysik geht ebenso mit Begriffsanalyse vor. Nur dass die Begriffe, die sie analysiert, andere sind als die mathematischen. Die Metaphysik wird Begriffe analysieren wie zum Beispiel Freiheit, Seele, Substanz oder Möglichkeit.

      Ich will Ihnen das an einem kleinen Beispiel verdeutlichen. Nämlich an dem Argument des René Descartes für die Nichtidentität von Körper und Geist. Oder an einem Argument im Geiste des Descartes. Es steht nicht ganz genauso bei Descartes, aber in ähnlicher Form. Das Argument läuft folgendermaßen: Es ist widerspruchsfrei denkbar, dass ich nur mit der Eigenschaft „ist-denkend“ existiere, aber ohne die Eigenschaft „ist-ausgedehnt“. Das heißt, spekuliert Descartes: Ich könnte mich darüber täuschen, dass mein Körper existiert. Nehmen wir an wie in dem Film Matrix, dass mir die ganze Außenwelt nur vorgespiegelt wird von einem bösen Geist, von einer bösen Maschine, dann habe ich vielleicht gar keinen Körper. Worüber ich mich aber nicht täuschen kann, ist, dass ich denke. Denn selbst wenn ich mich täusche oder wenn ich darüber nachdenke, ob ich mich täusche, bin ich immer am Denken. Deshalb: Das eine, worüber man sich letztlich nicht täuschen kann, ist, dass man denkt. Es ist also widerspruchsfrei denkbar, dass ich existiere nur mit der Eigenschaft „ist-denkend“, ohne aber die Eigenschaft ist-ausgedehnt zu haben. Oder mit anderen Worten: Meine körperlose Existenz ist kein logischer Widerspruch.

      Der nächste Schritt in dem Argument ist, wenn ich mich ohne die Eigenschaft „ist-ausgedehnt“ denken kann, dann kommt mir diese Eigenschaft nicht wesentlich, das heißt nicht notwendig zu. Wenn ich mir denken kann, ich könnte auch ein reiner Geist sein, der sich die Wirklichkeit nur träumt, die materielle Wirklichkeit, die räumliche Wirklichkeit nur vorstellt. Wenn ich mir das vorstellen kann, dann kommt mir diese Eigenschaft „ist-ausgedehnt“ eben nicht notwendig zu.

      Der dritte Schritt des Arguments ist der Folgende: Allen physischen Körpern kommt aber die Eigenschaft „istausgedehnt“ wesentlich zu. Also physische Körper sind notwendig im Raum ausgedehnt. Daraus ergibt sich Folgendes: Mir kommt die Eigenschaft „ist-ausgedehnt“ nicht notwendig zu, physischen Körpern kommt die Eigenschaft „ist-ausgedehnt“ notwendig zu. Also, schließt Descartes: Ich bin nicht mein Körper, denn mir kommen andere Eigenschaften notwendig zu als meinem Körper. Leib und Seele sind nicht identisch.

      Das ist in ganz kurzer Form ein Argument in kartesischer Tradition für die Nichtidentität von Körper und Geist, und es ist ein typisches Beispiel für metaphysisches Denken. Es läuft eigentlich in einem Dreischritt ab. Diesen Dreischritt nenne ich epistemisch, modal, ontologisch. Von der Vorstellbarkeit zur Möglichkeit zur Seinsaussage. Das sind die drei fundamentalen Schritte in diesem Argument, die typisch sind für ein Argument in der Metaphysik. Ich kann mir vorstellen, es ist widerspruchsfrei denkbar, dass ich ohne einen Körper existiere. Das ist Vorstellbarkeit. Dann kommt mir die Eigenschaft „ist-ausgedehnt“ nicht notwendig zu. Das ist die Ebene der Modalität – Notwendigkeit und Möglichkeit. Körpern, physischen Körpern kommt diese Eigenschaft „ist-ausgedehnt“ aber notwendig zu.

      Jetzt kommt der dritte Schritt: Also folgt, ich bin nicht identisch mit meinem Körper. Das ist der dritte Schritt, eine ontologische oder metaphysische Konsequenz über die Natur von etwas in dieser Welt, nämlich ich als Person bin nicht identisch mit meinem Körper. Also epistemisch, modal, ontologisch, in diesem Dreischritt vollzieht hier Descartes ein Argument, um zu zeigen, dass die Person als, wie er es nennt, res cogitans, als denkendes Wesen, nicht identisch ist mit dem Gehirn oder dem Körper, der in Raum und Zeit existiert.

      Eine solche begriffliche Analyse ist natürlich nicht aus der Erfahrung gewonnen, ähnlich wie die Mathematik, sondern a priori. Das Verständnis eines Begriffes verleiht uns die Fähigkeit, diesen Begriff sozusagen durch verschiedene Möglichkeiten, wie die Philosophen sagen durch verschiedene mögliche Welten, zu verfolgen, um zu sehen, wie er sich dort verhält. Und wenn er sich in allen möglichen Welten auf bestimmte Weise verhält, dann kommt ihm diese Eigenschaft notwendig zu. Man könnte sagen, dass diese Art des Denkens, diese Gedankenexperimente für den Metaphysiker das sind, was für den Naturwissenschaftler die Experimente sind, die er in seinem Labor unternimmt. Dieser Dreischritt, den ich Ihnen vorgestellt habe, ist ein Gedankenexperiment. Damit testet der Metaphysiker, die Metaphysikerin ihre Ideen. Auf der Suche nach Widersprüchen, wie weit reicht mein Denken.

      Ein weiterer wichtiger und im Folgenden immer wichtiger werdender Punkt ist allerdings, dass der Übergang von Naturwissenschaft und Metaphysik nicht strikt ist. Nehmen Sie eine oder die grundlegendste Theorie der Naturwissenschaft, über die wir überhaupt verfügen: die Quantenmechanik. Es gibt mindestens drei große Interpretationen der Paradoxien der Quantenmechanik. Darauf brauchen wir hier nicht eingehen, es gibt eigene Vorlesungen darüber (siehe uni-auditorium / Prof. Harald Lesch).

      Aber die Weltsicht, die sich aus den empirischen Ergebnissen und dem formalen mathematischen Formalismus der Quantenmechanik ergibt, ist zumindestens dreigestaltig. Die klassische und verbreitete Interpretation ist, dass der Beobachter mittels seines Geistes aus der Vielzahl der Möglichkeiten, die die fundamentalen Gleichungen der Quantenmechanik vorsehen, eine auswählt, sozusagen als Kollaps. Der Kollaps des Wellenpaketes passiert dadurch, dass jemand hinschaut. Vorher sind viele Möglichkeiten der Welt überlagert. Erst durch das Hinschauen wird eine als real ausgewählt. Das ist überraschend. Einstein hat gesagt, mein Bett springt doch nicht in eine bestimmte Position, wenn ich es anschaue. Und deshalb haben andere Interpreten der Quantenmechanik völlig andere Versuche unternommen. Zum Beispiel der Physiker David Bohm hat gesagt, nein, ich muss eine neue, ganz neue Art von Entitäten einführen, nämlich nichtmaterielle Informationsfelder, und diese informieren die Partikel, Elektronen, über ihre Position im Gesamt des Universums. Und weil die Elektronen über Informationswellen, über ihre Position im gesamten informiert