Daniel Hess

Glücksschule


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alle kennen die Erfahrung, dass die genau gleiche Situation von zwei verschiedenen Menschen aufgrund ihrer Wahrnehmungsbrillen komplett unterschiedlich interpretiert wird. Wenn du dir beispielsweise vorstellst, dass du morgen alleine für drei Monate nach Indien reist, wie würde dann diese Situation bei dir interpretiert werden? Welche Gefühle würde diese Vorstellung aufgrund der Interpretation auslösen? Könntest du dir vorstellten, dass das bei anderen Menschen ganz anders aussehen würde? Ebenso kann ein Mensch die gleiche Situation an einem Tag, an dem er sich schon grundsätzlich wohlfühlt, ganz anders interpretieren, als an einem auch sonst schon schwierigen Tag.

      Konstruieren und Personifizieren der Wahrnehmung

      „Der Beobachter ist mit der beobachteten

      Realität untrennbar verbunden.“

      Werner Heisenberg, Professor und Nobelpreisträger für Physik

      Der wichtigste Baustein für das Konstruieren der Wahrnehmung ist ebenfalls das Vorwissen und auch da wieder die aktuellen Gefühle und Emotionen.

      Das Gehirn bildet Kategorien – der Entwicklungspsychologe Jean Piaget spricht dabei von Schemata – und beginnt so, die ursprüngliche Welt der Einheit in getrennte Teile einzuordnen. Mit diesem automatischen Prozess erschaffen die Gedanken eine Realität der Trennung und der Dualität. Es erfolgt eine Trennung in Ich-Du, richtig-falsch, schön-hässlich, Mensch-Natur usw.

      Das ist mit der Aussage gemeint, dass alle Grenzen und Begrenzungen im Gehirn sind. Durch die vollständige Identifikation mit diesem gedanklichen Realitätskonstrukt verlieren wir scheinbar den Zugriff auf die ursprüngliche Verbundenheit mit allem Sein. Aber auch wenn das Gehirn unser Dasein als eine Realität voller Trennungen abbildet, bleibt die ursprüngliche Verbundenheit jederzeit unberührt davon. Durch die Identifikation mit der konstruierten Wahrnehmung der Gedanken wird diese ursprüngliche Erfahrung der Einheit aber durch eine Welt der Trennung und der Gegensätze überdeckt.

      Die Welt, wie wir sie erleben, ist also nicht dort draußen, sondern entsteht in jeder Sekunde als Konstrukt in unserem Kopf. Das Gehirn ist aber ein so geniales Werkzeug, dass wir die Dinge, obwohl sie als Wahrnehmung erst in unserem Gehirn entstehen, nicht als in unserem Kopf befindlich wahrnehmen, sondern räumlich „da draußen“, um uns herum. Ein weiterer genialer und automatisierter Prozess ist es, dass das Gehirn jegliche Wahrnehmung aus einer personifizierten Position heraus darstellt. Es werden nicht einfach Dinge und Ereignisse wahrgenommen, sondern ICH nehme sie wahr und ICH lebe und handle in dieser Realität dort draußen! All das konstruiert unser Gehirn. Ob es „da draußen“ überhaupt etwas gibt, und wenn ja, was, davon haben wir keine Ahnung. Wenn wir uns beispielsweise überlegen, dass Fledermäuse „die Welt“ nicht über die Augen, sondern über das Echo von ausgesandten Geräuschen „sehen“, dann kann man davon ausgehen, dass ihre Welt etwas anders aussieht als unsere. Aber wer kann behaupten, dass unsere Sichtweise richtig ist? Wenn sich die Wahrnehmung hauptsächlich aus den bestehenden Überzeugungen zusammensetzt, dann würden wir die Realität komplett anders erleben, wenn wir andere Lernerfahrungen gemacht hätten. Gibt es also so etwas wie eine richtige oder sichere Wahrnehmung?

      Selbstreflexion:

       Zu welchen Themen hast du die feste Überzeugung, zu wissen, was richtig oder falsch ist?

       Wann bewertest du dich selber oder andere Menschen und urteilst über sie? Bist du dir absolut sicher, dass dabei (nur) deine Wahrnehmung stimmt?

       Wie viele Konflikte gibt es in deinem Leben, bei welchen du dein Gegenüber von der Richtigkeit deiner Wahrnehmung überzeugen und dabei den anderen ins Unrecht setzen willst?

      Träume als Beispiele für eine konstruierte Wirklichkeit

      Eindrucksvoll zeigen unsere Träume, wie groß die schöpferischen Fähigkeiten des Gehirns sind, auch im Hinblick auf die Identität. In Träumen können wir uns selbst als eine andere Person erleben, als körperlos oder ausgestattet mit geträumten körperlichen Merkmalen, die gänzlich verschieden sind von denen im sogenannten Wachbewusstsein. Das Gefühl eines „Ich“ kann das Gehirn solchen geträumten Figuren ohne Weiteres überstülpen oder entziehen. Und dieses Ich, das wir im Traum sind, kann im Traum auch scheinbar frei entscheiden, was es tun oder nicht tun soll.

      Ein Traum existiert nicht unabhängig vom träumenden Bewusstsein. Der Traum der letzten Nacht, an den du dich vielleicht erinnerst, spielte sich in „deiner“ Wahrnehmung ab. Das, was wir nach dem Aufwachen als einen Traum bezeichnen, ist in der Zeit des Träumens selbst allerdings sehr real. Wenn die totale Identifikation im Traum geschieht, dann ist das für uns die absolute, zweifelsfreie Realität. Allfällige Bedrohungen in Albträumen beispielsweise lösen wirkliche Todesängste und Panik aus. Das heißt, solange wir im Traum sind, können wir ihn nicht als einen Traum erkennen, sondern erleben die Handlung als total persönlich und real. Unser Gehirn ist also mühelos fähig, sinnliche Erfahrungen zu erschaffen, die für uns komplett real und personifiziert sind. Und auch wenn unsere Träume oft ähnlich und gewisse Traumpassagen fast allen Menschen bekannt sind, so lebt doch jedes träumende Bewusstsein in seinen eigenen Träumen. Die Träume, die in einem träumenden Bewusstsein auftauchen, sind abhängig von dessen bisherigen Erfahrungen und Lernprozessen im Leben. Träume sind ein Spiegel des träumenden Bewusstseins und seinen Ängsten, Sorgen, Wünschen sowie Erfahrungen.

      Genauso sind die sinnlichen personifizierten Erfahrungen im sogenannten Wachzustand nur ein Konstrukt des Gehirns. Und auch hier kann erst dann erkannt werden, dass diese Erfahrungen im Wachzustand nur ein Gehirnkonstrukt sind, wenn ein Aufwachen aus diesem Zustand geschieht. Dieses Aufwachen wird gemeinhin als Erleuchtung, Nirwana oder Erwachen bezeichnet. Diese Art des Erwachens aus dem Wachzustand der Trennungsrealität und des Egos ist aber nicht für ein Ich möglich, sondern bei diesem Aufwachen löst sich die Vorstellung von einem getrennten Ich, das handelt und Erfahrungen macht, auf und wird wie die gesamte Wahrnehmung als reines Konstrukt der Gedanken entlarvt.

      Wahrnehmung und Realität existieren nicht unabhängig vom wahrnehmenden Bewusstsein. Welche Realität ein Mensch erfährt, ist stets ein Spiegel der bisherigen Erfahrungen und Lernprozesse im Leben.

      Bei einem Traum fällt es uns nicht ein, darauf zu pochen, dass unsere Wahrnehmung, die wir im Traum hatten, völlig stimmt und die einzig richtige ist. Wir streiten nicht mit anderen Menschen darüber, wer den richtigen Traum geträumt hat und welche Träume ganz falsch sind. Bei der Realität, die unser Gehirn im Wachzustand konstruiert, ist das aber sehr weit verbreitet. Wir glauben, dass die konstruierte Realität unseres Gehirns richtig ist (eigentlich die einzig richtige Art, die Dinge wahrzunehmen). Es ist vielleicht mehr noch so, dass wir das glauben müssen, weil wir viel zu große Angst vor der Tatsache des Nichtwissens und dem damit verbundenen Kontrollverlust haben.

      Es sind vorwiegend andere Menschen, die uns beigebracht haben, wie wir die Welt wahrzunehmen haben und dass es scheinbar ein getrenntes Jemand gibt, das die Welt wahrnimmt. Aber auch diese anderen Menschen, beispielsweise unsere Eltern, Lehrer, die Medien usw., haben ihrerseits ihre Sicht der Dinge nur von wiederum anderen übernommen. – Woher also kommt unser Wissen über uns und die Welt und wieso glauben wir alle, dass ausgerechnet unsere Sicht der Dinge die (einzig) richtige ist?

      Selbstreflexion:

       Erinnere dich an einen Traum, den du in letzter Zeit hattest. Kannst du daran erkennen, wie kreativ dein Gehirn Realitäten entstehen lässt?

      Schritt 3: Speichern der konstruierten Erfahrung

      In einem weiteren im Gehirn automatisch ablaufenden Prozess werden die konstruierten Bilder und Erfahrungen ihrerseits gleichzeitig automatisch bewertet, abgespeichert und ins Vorwissen eingeordnet. Es entstehen Überzeugungen über die Welt, die Menschen und uns selbst oder bestehende Überzeugungen werden bestätigt sowie verstärkt. Diese Überzeugungen bilden ihrerseits die Grundlage für die Realität, die in der Folge konstruiert und erfahren wird. Vereinzelt entstehen auch neue Verknüpfungen. Aber neue Verknüpfungen beziehungsweise das Lernen geschehen nur, wenn auch eine Offenheit für Neues da ist.

      „Die Krise unserer Gesellschaft