Werner Huemer

Unsterblich?!


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Peinliche Befragung der Natur

      Der Kulturhistorikerin Anna Bergmann folgend, kam der radikale Sinneswandel, der sich in den vergangenen Jahrhunderten vollzog und vom Glauben zum Wissen führte, nicht aus heiterem Himmel.

      In ihrem lesenswerten Buch „Der entseelte Patient“ begründet sie ihre Überzeugung, dass dafür letztlich „die verheerenden Wetter-, Hunger- und Seuchenkatastrophen“ ausschlaggebend waren, die im 14. und vor allem auch 17. Jahrhundert „weit mehr Opfer als militärische Konflikte“ forderten. Diese Ereignisse – angefangen von der „Kleinen Eiszeit“ ab Ende des 13. Jahrhunderts bis hin zur Pest im 17. Jahrhundert – erschütterten den naiven Glauben des Menschen nachhaltig. Und sie drängten ihn dazu, Möglichkeiten zu finden, „eine Resistenz gegen die am eigenen Leib durch Krankheit, Altern und vor allem den Tod erfahrene Verwundbarkeit erzeugen zu können.“

      Auf dieser Grundlage einer Wechselbeziehung zwischen Natur- und Kulturgeschichte etablierte sich nach und nach das menschliche Konzept der Naturbeherrschung: „Das Interesse an einer Enträtselung des als Werk Gottes verstandenen ‚Buches der Natur‘ richtete sich gezielt auf eine Suche nach Methoden ihrer menschlichen Manipulierbarkeit, um letztlich eine von Gott unabhängige Sicherheit durch menschliches Handeln gewinnen zu können“, formuliert die Autorin. So soll der medizinische Fortschritt in eine Welt führen, „in der körperliches Leid und menschliche Sterblichkeit in ihre Schranken verwiesen sind, in der wir uns vor dem Tod immer mehr geschützt meinen“.

      In unserer modernen Wahrnehmung sei der Tod also, meint Anna Bergmann, „zu einem klinisch besiegbaren Phänomen degeneriert“. Der moderne Mensch gehe davon aus, dass die „physiologische Katastrophe“ grundsätzlich „ärztlich verhinderbar ist“.

      Die heute weit verbreitete Auffassung, den Kampf gegen den Tod durch Wissenschaft und Forschung gewinnen zu können, entwickelte sich schrittweise – wobei sich, wie die Kulturhistorikerin formuliert, „seit der Renaissance eine neuartige Allianz zwischen Obrigkeit, Wissenschaft und christlicher Religion“ formierte. Und im Zentrum dieses Bundes tobten durch die Jahrhunderte Kampf und Gewalt.

      Üblicherweise wird der große geistesgeschichtliche Fortschritt der Menschheit am Beginn der Neuzeit damit beschrieben, dass an die Stelle des blinden Glaubens an religiöse Überlieferungen und Traditionen die „Frage an die Natur“ trat. Die Wahrheit, also die Übereinstimmung einer Theorie mit der Wirklichkeit, sollte durch das Experiment herausgefunden werden. Heute erscheint dieser Ansatz vernünftig und sachlich.

      Wer allerdings dem englischen Staatsmann und Philosophen Francis Bacon (1561–1626) folgt, der neben Leonardo da Vinci (1452–1519) als Vater des experimentellen Erkennens gilt, gewinnt einen anderen Eindruck.

      Bacons Credo war definitiv die Beherrschung und Unterwerfung der Natur. Er wollte sie im Sinne einer inquisitorischen Befragung („inquisition of causes“) zum Sprechen bringen. Ein Ansatz, der nicht zufällig an die „peinliche Befragung“ (also die Folterung) erinnert, der in dieser Zeit vermeintliche Hexen unterzogen wurden, um ihnen „die Wahrheit“ abzuringen. Bacon war als Generalstaatsanwalt des Königs auch selbst mit der Hexenverfolgung befasst.

      Bei kritischer Betrachtung der Medizingeschichte wird deutlich, dass das Element „Gewalt“ sehr oft zum Streben nach neuen Erkenntnissen gehörte. Seit der „Vater der Anatomie“, Andreas Vesal (1514–1564), den Geheimnissen des Lebens mit dem Seziermesser auf den Grund gehen wollte, etablierte sich immer nachhaltiger die Überzeugung, durch chirurgische Eingriffe Krankheit und Tod besiegen zu können. Doch die dafür nötigen Kenntnisse forderten ihre Opfer.

      Vesal war der erste, der in der Öffentlichkeit menschliche Leichen und auch lebendige Tiere zergliederte, um Körperfunktionen zu verstehen und verständlich zu machen. Aber schon davor, im ausgehenden 13. Jahrhundert, als es darum ging, die Ursachen von Seuchen zu ergründen, wurde erstmals nachweislich das große Tabu gebrochen, einen Körper zu öffnen.

      Heute können wir uns kaum vorstellen, was das bedeutete. Denn die kollektiven Gedankenformen waren damals ja geprägt von der christlichen Überzeugung, jeder Mensch würde am Tag des Jüngsten Gerichts leiblich wieder auferstehen. Die Seele blieb demnach auf magische Weise auch über den Tod hinaus mit dem verstorbenen Leib verbunden, und eine Zergliederung dieses Leibes musste dramatische Folgen für die Seele haben.

      In manchen Fällen war die möglichst „vollständige Vernichtung“ eines Menschen jedoch erwünscht. So gab es verschärfte Hinrichtungsmethoden für Schwerverbrecher. Deren Körper wurden gezielt zerstückelt und verstümmelt (durch Köpfen, Herzentnahme oder Entdärmung) sowie verstreut oder an unterschiedlichen Orten dem Vogelfraß überlassen. Im Normalfall aber galt der Leib eines Toten als unantastbar; es herrschte ein „Sektionstabu“.

      Als später im „Anatomischen Theater“ öffentlich Leichenzergliederungen zelebriert wurden, verwendete man zunächst nur Leichen von kurz davor hingerichteten Verbrechern. Sie hatten keine Totenrechte, und um ihr seelisches Wohl sorgte sich wohl niemand. Zum Vergnügen der höheren Gesellschaft und der „ehrbaren Bürger“ – das waren Könige, Fürsten, Adelige und Geistliche – führten Anatomen coram publico Leichenzergliederungen durch. Die Ära dieses offenbar unterhaltsamen Anatomie-Spektakels erreichte im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt, dauerte aber bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.

      Die Strafjustiz, genauer gesagt: der Henker, lieferte somit über Hunderte von Jahren das „Material“ für die medizinische Grundlagenforschung. Später wurden neben Exekutierten auch Verstorbene aus ärmeren Schichten öffentlich zergliedert. Wobei die Regel galt: Je tiefer jemand im sozialen Status steht, desto radikaler darf er zerstückelt werden.

      Als sich im 18. Jahrhundert schließlich die Tore für die Öffentlichkeit schlossen, wurde die Tradition, durch Fragmentierungstechniken neue Erkenntnisse zu gewinnen, in den Krankenhäusern fortgesetzt. Anna Bergmann zeichnet in ihrem Buch „Der entseelte Patient“ überzeugend eine Entwicklungslinie nach, die vom „Anatomischen Theater“ über die Menschenexperimente in Gefängnissen und Konzentrationslagern bis hin zur modernen Praxis der Transplantationsmedizin führt. Heute wie ehedem geht es nach ihrer Ansicht um „das Phantasma der Sterblichkeitsüberwindung“.

      Bergmann: „Die menschliche Sterblichkeit, die Unfassbarkeit des Todes zählen zu den größten Angstquellen und werden daher wahrscheinlich zu Recht von Ethnologen und Religionswissenschaftlern für den Ursprung der Religionen verantwortlich gemacht. Schließlich haben alle Religionen den Glauben an ein Leben nach dem Tod beziehungsweise an die Unsterblichkeit gemeinsam.“ Im Zuge eines „Verweltlichungsprozesses“ habe die Medizin „im Überwindungsversuch der menschlichen Sterblichkeit“ inzwischen eine Vorreiterrolle eingenommen, die „von keiner christlichen Kirche in Frage gestellt“ werde.

      Dabei spiele die alte „Opferlogik“ nach wie vor eine Rolle: Zugunsten von Fortschritt und Nützlichkeit würden auch Menschenopfer in Kauf genommen: „In dem zweckrational begründeten Vorgehen der Zergliederung, der Vivisektion von Tieren und des Menschenversuchs liegen Quellen experimenteller Gewalt- und Folterpraktiken, denen durch die hehre Forschungsintention, das Leben von möglichst vielen Menschen zu retten, keine Grenzen gesetzt sind.“

      Kurzum: Unser Ausflug in die Geschichte zeigt, dass sich, gefördert durch katastrophale Naturereignisse, die Unsterblichkeits-Zuständigkeit – früher Kirche, heute Medizin – über die Jahrhunderte grundlegend verändert hat. Ob aber der moderne Ansatz, das ewige Leben mit dem Skalpell zu erzwingen – oder, sachlicher formuliert, den Kampf gegen die Vergänglichkeit mit Hilfe der Apparatemedizin zu führen –, nicht ebenfalls ein Irrweg ist, werden wir noch diskutieren.

      Interessanterweise wurde in früherer Zeit der Begriff „Leib“ – abgeleitet von lib = Leben – verwendet, womit dessen Beseelung zum Ausdruck kam. Heute sprechen wir statt dessen vom „Körper“ – abgeleitet von corpus = Leichnam.

      Haben uns Anatomie und Chirurgie von der Erkenntnis des Lebens am Ende noch weiter entfernt? Ein böser Verdacht.