Zusammenhang heraus gedacht, also nicht in seiner leiblichen Verbundenheit verstanden und entsprechend auch zu heilen versucht wird, handelt es sich um ein mechanistisches Körperkonzept, das selbst in der modernen Medizin überholt ist. Ich denke zum Beispiel an hirnphysiologische oder zellbiologische Forschungsansätze, die insbesondere hochkomplexe Wechselwirkungen ins Zentrum stellen.
Die Transplantationsmedizin hält aber an einem mechanistischen Menschenbild fest. Der selbstverständlich gewordene Satz: „Ein Mensch benötigt ein neues Herz“ beinhaltet die Vorstellung von einem autonom funktionierenden Organ, das in keiner lebendigen Verbindung zum Beispiel zur Leber, Lunge oder Niere steht und insgesamt aus seinem leiblichen Zusammenhang gedacht ist. Die Wechselbeziehungen zu anderen Organen und generell die leibliche Verbundenheit müssen daher ignoriert werden – das Herz wird also im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Körper heraus gerissen, um es mechanisch auswechselbar machen zu können, was jedoch angesichts der schweren Nebenwirkungen eine Fiktion bleibt.
Wie beurteilen Sie im Hinblick auf all diese Schattenseiten die Werbung, die für das Organspenden gemacht wird? Als gezielte Irreführung?
Bergmann:
Es wird genau dieses primitive mechanistische Körperbild reproduziert, das nicht nur eine utopische Vorstellung unseres Leibes suggeriert, ganz nach dem Motto: „Ein neues Organ – ein neues Leben“. Die hohen Sterbe- und Morbiditätsraten werden nicht veröffentlicht und in der Werbung um Organspende verschwiegen. Auch die Formulierung auf den Spenderausweisen – „Für den Fall, dass nach meinem Tod …“ entspricht einer vorsätzlichen Täuschung der Bevölkerung, weil damit eine Leichenvorstellung vermittelt wird, die der Realität von hirnsterbenden Patienten auf einer Intensivstation absolut widerspricht, wenn wir bedenken, dass Hirntote noch über alle Anzeichen des Lebens verfügen und der Blutkreislauf, der Stoffwechsel, das Blutgerinnungs- und Immunsystem erhalten bleiben.
Sie atmen mit technischer Unterstützung des Zwerchfells, sind in der Lage, Infektionen abzuwehren, Stresshormone zu entwikkeln, zu schwitzen, bei der Eröffnung ihres Körpers mit Anstieg des Blutdrucks und Pulses zu reagieren. Hirnsterbende Frauen sind noch fähig, ein Kind auszutragen.
Vor diesem Hintergrund kann von Information keine Rede sein. Meines Erachtens handelt es sich um eine Desinformationspolitik, um an mehr Organe zu kommen – und mittlerweile, das sollte auch bedacht werden, um gratis Gewebe gleich mit gewinnen zu können.
Sofern es sich um Multiorganentnahmen handelt …
Bergmann:
Die Multiorgangewinnung bewegt sich inzwischen bei etwa 85 Prozent aller Organentnahmen. Eine Diskussion über die Gewinnung von Geweben fand bisher nicht statt, obwohl bestimmte Gewebe zu Arzneimitteln verarbeitet und teilweise verkauft werden. Die Reklame für Organspende legt es geradezu darauf an, dass sich niemand ein Bild von dem Umfang und dem Prozedere einer Organ- und Gewebeentnahme machen und realisieren kann, wie der sich noch im Sterben befindende Spender erst auf dem Operationstisch durch medizinisches Handeln in eine wirkliche Leiche verwandelt.
Die Werbung operiert mit dem Bild des klinisch Reinen; der Gedanke der Nächstenliebe steht im Vordergrund, alles ist blumig und bestens in Ordnung. Die blutige Wirklichkeit im Operationssaal wird ausgeblendet. Sie haben mit vielen Menschen gesprochen, die berufsmäßig mit Transplantationen zu tun haben: Krankenschwestern, Anästhesisten, Ärzte. Was berichten sie vom Alltag hinter der Kulisse der Werbeklischees?
Bergmann:
Bemerkenswert ist zunächst der hohe Grad der Arbeitsteilung bei einer Organ- und Gewebegewinnung. Die einzelnen Teams der Organentnehmer haben im Operationssaal schon einen abgedeckten Organspender vor sich, den sie als Patienten vorher niemals gesehen haben. Sie betreten als Fremde kurz den Operationssaal, um bestimmte Organe zu explantieren. Diesen beschränkten Horizont haben Operationsschwestern und Anästhesisten nicht, da sie eine Explantation von Anfang bis Ende mittragen müssen. Anästhesisten sind für die Kreislaufstabilisierung der Organspender verantwortlich und müssen zum Beispiel auch eine „frustrane Organspende“ abwehren helfen: Denn wenn der Herzkreislauf eines Spenders vor der Organgewinnung auf dem Operationstisch zusammenbricht, werden auch Reanimationen durchgeführt, um die Organe zu „retten“.
Dies ist medizinethisch eine heikle Situation. Aus der Berufsgruppe der Anästhesisten wurden mir schwere Gewissenskonflikte geschildert und auch berichtet, dass zum Beispiel eine Anästhesistin das Krankenhaus verlassen hat mit der Begründung, sie beteilige sich nicht an Mord.
Und für die Schwestern ist es wahrscheinlich auch eine schwierige Situation.
Bergmann:
Ja, weil sie das gesamte Prozedere miterleben. Wenn nach der Organentnahme außerdem noch Gewebe gewonnen wird, kann es zu solchen Konflikten kommen, dass zum Beispiel OP-Schwestern sich weigerten, an Knochenexplantationen weiterhin mitzuwirken.
Für sie sind auch neuere Entwicklungen problematisch, zum Beispiel die brutalisierte Explantationsweise bei der Gruppe der „Non-heart-beating-donors“ oder die gängig gewordene Transplantation von alten Menschen, die schwer zu behandelnde Wundheilungsprobleme bekommen.
Also Menschen, bei denen keine Hirntodfeststellung erfolgt, die aber einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden.
Bergmann:
Ja, die Gruppe der „Non-heart-beating-donors“ wurde 1995 in mehrere Kategorien eingeteilt. Kategorie III stellt darunter die größte Spendergruppe dar. Hier handelt es sich um Patienten, bei denen aufgrund einer schlechten Prognose ein Behandlungsabbruch erfolgt, der direkt an die Logistik der Organentnahme gekoppelt wird. Allerdings wurde eine „non-touch-period“ eingeräumt, die zwischen 75 Sekunden und 10 Minuten schwankt. Wir haben es hier also mit Patienten zu tun, bei denen der Hirnkreislauf nicht zwingend zusammengebrochen ist, denn bis zu 15 Minuten nach Herzstillstand sind Hirnaktivitäten noch messbar.
Das Hirntodkriterium ist bei dieser Spendergruppe aufgegeben worden. Stattdessen wird versucht, mit allen nur denkbaren Mitteln den Sterbeprozess medikamentös, apparativ und durch Herzmassage rückgängig zu machen sowie unter hohem Zeitdruck die Organe zu gewinnen.
Organtransplantationen waren ja immer auch Experimente am Menschen. Es ging nicht nur um medizinische Hilfe, sondern auch um Erkenntnisgewinn. Wie sehen Sie die Situation heute? Ist die Experimentierphase noch nicht zu Ende?
Bergmann:
Oh nein! 2008 hat in der Fachliteratur ein Transplantationsmediziner hinsichtlich der anstehenden Forschungen auf diesem Gebiet von einem „Goldgräberzeit-Szenario“ gesprochen. Das Forschungsfeld ist weit gespannt, es geht um optimierte Möglichkeiten der Organkonservierung, die Entwicklung neuer Generationen von Immunsuppressiva und nicht zuletzt gibt es ja auch eine wichtige Verbindung zwischen Gentechnologie, Stammzellforschung und Transplantationsmedizin, um Probleme der Abstoßung und Gewinnung von Organen beispielsweise durch ihre Verpflanzung aus dem Körper genmanipulierter Schweinen lösen zu können.
Haben sich die Überlebensaussichten für Organempfänger in den letzten zehn oder 20 Jahren verbessert?
Bergmann:
Das ist schwer zu sagen, denn die Zahlen werden nicht offen gelegt, und die Transplantationsmedizin hat sich nie durch eine erfolgreiche Überlebensrate der Organempfänger beweisen müssen. Dass mit Überlebensstatistiken keine Werbung gemacht wird, sollte jedoch zu denken geben. Was allerdings auffällig ist: Die Einjahres-Überlebensrate hat sich zum Beispiel bei Herzempfängern seit etwa 20 Jahren nicht verändert. Im ersten Jahr sterben nach einer Herzverpflanzung nach wie vor 20 Prozent. Nach einer Lungentransplantation hat sich die Überlebensrate laut Statistik der Pharmafirma Genzyme verbessert, und es sterben im ersten Jahr 28 Prozent. Nierenempfänger haben die beste Prognose, zumal bei einer Abstoßung die Dialyse als Überbrückung möglich ist, so dass Genzyme hier ausschließlich „Transplantatfunktionsraten“ publiziert und eine Funktionsrate bei jedem zweiten Nierenempfänger von 13