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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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und ihrer Ablehnung dem Thema gegenüber?

      Zuerst ist es wichtig, einen verbindlichen Rahmen für eine Unterrichtseinheit zur Zeitgeschichte herzustellen. Im Idealfall sollte das Thema den Lernenden schon einige Zeit vor der Einheit angekündigt werden, damit Erwartungen, Befürchtungen und ablehnende Haltungen schon im Vorfeld Platz bekommen. Zu einem guten Rahmen gehört auch die Sicherheit, dass eigene Gedanken, Vorwissen, Fragen und Überlegungen willkommen sind und nicht sanktioniert werden. Gleichzeitig sollte im Fach Politische Bildung wie grundsätzlich in jeder Unterrichtssituation klar sein, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung auf Basis von Wissenschaftlichkeit, Respekt und den Menschenrechten stattfinden muss.

      Ist eine grundsätzliche Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung im Vorfeld gemeinsam festgestellt worden, dann sind von Seiten der Lehrenden keine mahnenden Appelle notwendig und von Seiten der Schülerinnen und Schüler weniger abwehrende Provokationen und „unpassende“ Kommentare zu erwarten. Bei der Leitung einer Unterrichtseinheit zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust soll der Beutelsbacher Konsens zur Anwendung kommen: das Verbot der Überwältigung, das Gebot der Kontroversität und das Gebot der Interessenorientierung. Die Geschichte des Holocaust ist an sich überwältigend. Es braucht hier kein Heranziehen der Bedeutung des Themas zur Disziplinierung einer Klasse, keine Überwältigung durch grauenhafte Bilder, keinen Zwang zur Trauer und letzten Endes auch keinen Zwang zur Auseinandersetzung. Wenn die Jugendlichen einer Schulklasse z. B. sagen, dass sie keine Exkursion nach Mauthausen machen wollen, dann ist das zu akzeptieren und den Schülerinnen und Schülern kein generelles Desinteresse zu unterstellen. Kontroversität bedeutet, dass kontrovers dargestellt werden soll, was in der Gesellschaft kontrovers ist. Nicht kontrovers diskutieren muss man über historische Fakten oder etwa darüber, ob es nicht auch „gute Seiten“ am Nationalsozialismus gab. Ein solcher Mythos soll zwar besprochen werden, ohne die Person zu beschämen, die ihn vorgebracht hat, doch ist die Lehrperson hier aufgefordert, den Mythos fragend zu dekonstruieren: Für wen hatte das NS-System „gute Seiten“? Wer und was muss ignoriert werden, um diese vermeintlich „guten Seiten“ betonen zu können? Ein solcher historischer Mythos muss diskutierbar sein, sollte aber nicht als „alternative Meinung“ zu diesem Thema gleichberechtigt stehen bleiben. Das Gebot der Interessenorientierung bedeutet in diesem Kontext das Anknüpfen an konkrete Biografien, an Orte, die für die Lernenden Bedeutung haben, an altersspezifische oder berufliche Erfahrungen – und damit auch eine Abkehr von der Vermittlung von Zeitgeschichte ausgehend von Zahlen, Daten und Fakten.

      Diese Hinwendung zu den Fragen der Jugendlichen birgt wohl für jede Lehrperson Unsicherheiten – doch es zahlt sich aus, sich diesen gemeinsam mit den Lernenden zu stellen. Hilfreich ist dabei passendes Unterrichtsmaterial für die besonderen Herausforderungen der Berufsschule.

      „Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler?“ – Ein Beispiel aus der Praxis

      Viele Unterrichtsmaterialien von _erinnern.at_ bemühen sich ausgehend von Biografien, eine offene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen zu ermöglichen. Die Unterrichtseinheit „Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler“ liegt darüber hinaus auch in einfacher Sprache vor. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich im ersten Schritt mit der Geschichte der Familie Winkler, einer aufgeklärt-jüdischen Familie aus Wien mit zwei Kindern. Eines dieser Kinder, Jessy, kann ins britische Mandatsgebiet Palästina flüchten, alle anderen werden von den Nazis ermordet. Die Geschichte der Familie Winkler führt zu vielen Fragen über grundlegendes Wissen zum Nationalsozialismus. Lernende können hier nachfragen oder ihr Vorwissen einbringen, Begriffe klären und erzählen, woher sie bisher über den Nationalsozialismus gehört haben. In einem zweiten Schritt bekommen die Jugendlichen allein oder zu zweit kurze Biografien von Menschen, die Verfolgten geholfen haben; von anderen, die von der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert haben; von Menschen, die sich an den Verbrechen führend beteiligt haben oder die einfach mitgemacht haben. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich damit auseinander, wie sich eine konkrete Person zu den Verbrechen des Nationalsozialismus, für die der Tod von Edith Winkler steht, verhalten haben. Fast automatisch werden weitere Fragen aufgeworfen: Welche Handlungsmöglichkeiten hatte die Person? Welche Motivationen könnte sie gehabt haben? Hat sie durch ihr Handeln eine Mitschuld am Tod Edith Winklers? Der Prozess der Auseinandersetzung wird hier stets von den Fragen, Meinungen und Überlegungen der Jugendlichen geleitet. Die Lehrperson, die im ersten Teil eine gemeinsame Wissensbasis hergestellt hat, moderiert hier vor allem und fragt nach. So führt diese zwei oder drei Schulstunden umfassende Unterrichtseinheit am Ende meist zu einer Debatte über die persönliche Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen, Handlungsspielräume und das Verhalten konkreter Personen. Viele Fragen zu Voraussetzungen des Völkermordes, historischen Entwicklungen und geschichtspolitischen Debatten bleiben in der kurzen Zeit natürlich offen, aber im besten Fall wurde Interesse für weitere Auseinandersetzung geweckt.

      Fazit

      Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sich historisch-politischer Unterricht mit Lehrlingen vor allem dadurch von Geschichtsunterricht am Gymnasium unterscheidet, dass die Rahmenbedingungen andere sind. Die Haltungen der Lernenden, ihr Interesse und ihre Fragen sind bei Lehrlingen, Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ebenso ähnlich wie die Herausforderungen für ihre Lehrende. Ich selbst konnte in den letzten zehn Jahren langsam und unter Beachtung der besonderen Voraussetzungen wieder zu meiner ursprünglichen Motivation zurückfinden, mit Lehrlingen über Nationalsozialismus und Holocaust, über Geschichtsbilder, Geschichtspolitik, Erinnerungskultur, aber auch über aktuellen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie zu sprechen. Und das nicht nur im Fach Politische Bildung – das in Österreich verankerte Unterrichtsprinzip politische Bildung ist eine Aufforderung an uns Lehrende, auf diese Themen auch in anderen Fächern einzugehen, wenn sie aufkommen. Und das geschieht regelmäßig durch die Schülerinnen und Schüler, wenn man als Lehrperson eine gewisse Sensibilität und die Bereitschaft, sich offen mit Welt- und Menschenbildern zu beschäftigen, in den Unterricht mitbringt.

      Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen für historisch-politische Bildung führen wohl oft dazu, dass Lernenden an Gymnasien eher zugetraut wird, sich mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust sinnvoll auseinandersetzen zu können, und dass Lehrlinge meist nur als Problem, als „Objekte mit vermuteten und zu behebenden Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensdefiziten“ (Scheurich, 2010, S. 38) wahrgenommen werden. Doch haben Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vielleicht nur besser gelernt, welche Fragen bei diesem Thema richtig und welches Verhalten angemessen ist. Lehrlinge interessieren sich genau wie andere Jugendliche für Geschichte, wenn es um eigene Haltungen, eigene Weltsichten und die eigenen Fragen an Geschichte geht und sie als Subjekte im Prozess der Deutung von Geschichte ernstgenommen werden.

      Literaturverzeichnis

      International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA): Empfehlungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust (o. O. 2019), https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/educational-materials/empfehlungen-zumlehren-und-lernen-ueber-den-holocaust (29.11.2020).

      Borries, Bodo von: Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens. Opas Schulbuchunterricht ist tot, in: Georgi, Viola B. / Rainer Ohlinger (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft (Bonn 2009) S. 25–45.

      Dornmayr, Helmut / Sabine Nowak: Lehrlingsausbildung im Überblick 2020. Strukturdaten, Trends und Perspektiven (Wien 2020).

      Georgi, Viola B.: „Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich Jugendliche Deutsche auch interessieren.“ Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien, in: Georgi, Viola B. / Rainer Ohlinger(Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft (Bonn 2009) S. 90–108.

      Kapeller, Lukas: „Berufsschüler sind eine vergessene Mehrheit“, in: Der Standard, 24.11.2010, https://www.derstandard.at/story/1289608020535/berufsschuelersind-eine-vergessene-mehrheit