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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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Erfahrungen in ihren Unterricht zu integrieren und die Begegnung mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust perspektivisch anders anzulegen, das bleibt oftmals verborgen. Das Aufbrechen von gewohnten Erzähl- und Denkmustern zeigt aber gewiss nachhaltige Wirkung.

      Ich bin davon überzeugt, dass in einer wirksamen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit alle drei eingangs geschilderten persönlichen Erfahrungen miteinander verbunden werden müssen. Wenn bei Gedenkfeiern, oft in Anwesenheit der letzten Überlebenden, bei Gedenkstättenbesuchen oder Gesprächen mit Zeitzeuginnen und -zeugen Emotionen geweckt werden, hat das sehr viel mit uns selbst zu tun, mit der Bereitschaft, sich einzulassen, mit der gegenwärtigen politischen Situation und der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit, natürlich auch mit der Betroffenheit, die wir selbst im Zusammenhang mit dem Thema haben oder spüren. Empathie, Betroffenheit oder Emotion kann man nicht didaktisch verordnen – und man soll es auch nicht anstreben. Wenn Schülerinnen und Schüler Einzelschicksale kennenlernen, sind sie ohnehin in den meisten Fällen berührt. Wichtig ist ein inhaltlich orientierter, analytischer Zugang zu historischem Wissen, der systematische Blick auf Phänomene, die Gesellschaften an allen Orten und zu allen Zeiten bedrohen. So kann, wie Raya Kalisman sagt, „die Beschäftigung mit dem Holocaust […] zu einem Baustein der Peace Education [werden], anstatt als Projektionsfläche und Argumentationsmuster für Feindlichkeiten zwischen jüdischen und arabischen Israelis zu fungieren“ (Kashi, 2008, S. 77). Übertragen auf unsere Gesellschaft gilt es, Argumentationsmuster und Feindlichkeiten offenzulegen, die hierzulande nicht nur, aber auch mit dem Thema Holocaust bedient werden. Nur mit einem universalistischen Ansatz wird es gelingen, dem Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust einen Gegenwartsbezug und eine Zukunftsbedeutung zu geben.

      Bei jeder Auseinandersetzung mit Geschichte ist immer wieder neu zu fragen: Mit welchem Ziel erzählen wir das, wozu soll die Beschäftigung damit dienen? Wenn in diesen Tagen in Israel und international über die umstrittene Neubesetzung der Leitungsfunktion in Yad Vashem mit einem Vertreter der äußersten Rechten diskutiert wird, so wird diese Frage ungemein brisant. Das Thema und die Inhalte sind in der Geschichtsvermittlung nur eine Seite der Medaille, die andere ist die Motivation, die dahintersteckt. Das gilt für die international bedeutendste Holocaust-Gedenkstätte genauso wie für jeden Geschichtsunterricht.

      Literaturverzeichnis

      Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959–1969. Hrsg. von Gerd Kadelbach (Frankfurt/M. 1970) S. 92–109.

      Alanam, Omar Khir: Sisi, Sex und Semmelknödel. Ein Araber ergründet die österreichische Seele (Wien 2020).

      Alavi, Bettina: Herausforderung an eine „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft, in: Rathenow, Hanns-Fred / Birgit Wenzel u. a. (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung (Schwalbach/Ts. 2013) S. 79–94.

      Embacher, Helga / Margit Reiter: Gratwanderungen. Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im Schatten der Vergangenheit (Wien 1998).

      Edtmaier, Bernadette: Welche Bedeutung hat der Holocaust für Jugendliche mit Migrationsgeschichte?, in: Embacher, Helga / Manfred Oberlechner u. a. (Hrsg.): Eine Spurensuche. KZ-Außenlager in Salzburg und Oberösterreich als Lernorte (Frankfurt/M. 2019) S. 157–175.

      Erkurt, Melisa: Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben (Wien 2020).

      Kashi, Uriel: Demokratiebildung in Israel. Geschichte und aktuelle Ansätze. Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Berlin 2008), https://bit.ly/2Q52MHZ (23.11.2020).

      Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis (Innsbruck 2006).

      Zeitungsartikel

      Wiener Schüler unterschätzen Zahlen der Holocaust-Opfer massiv, in: Der Standard (Online-Ausgabe) vom 9. Mai 2020, https://www.derstandard.at/story/2000117388175/wiener-schueler-unterschaetzen-zahlen-der-holocaustopfer-massiv (24.11.2020).

      Grobe Wissenslücken zum Holocaust. Edtstadler: Alle Schüler sollen Mauthausen besuchen, in: Kleine Zeitung (Online-Ausgabe) vom 2. Mai 2020, https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5621225/Grobe-Wissensluecken-zum-Holocaust_Edtstadler_Alle-Schueler (30.10.2019).

      Antisemitismus in Schulen. „Schon wieder Holocaust?“ Rechtsradikale Schüler mobben jüdische Kinder, arabischstämmige loben Hitler. Was können Schulen gegen Antisemitismus tun? Zwei Lehrer berichten von ihren Erfahrungen. Interview von Elisabeth Kagermeier, in: ZEIT (Online-Ausgabe) vom 12. September 2018, https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-09/diskriminierung-antisemitismus-rechtsextremismus-juden-schulen-mobbing (23.11.2020).

      Anmerkungen

      1 Die Autorin bezieht sich auf sozialpsychologische Studien, die fünf verschiedene Muster des familiären Sprechens über Nationalsozialismus und Holocaust ergaben. Neben dem Tradierungstyp der Opferschaft gibt es den der Rechtfertigung, der Distanzierung, der Faszination und der Überwältigung.

      Peter Larndorfer

      „Die Bedeutung der historischen Dimension“ – Historisch-Politische Bildung in der Berufsschule

       Als ich im April 2012 nach meinem Diplomstudium Geschichte und einigen Jahren als Gedenkstätten-Vermittler begann, an einer Berufsschule zu unterrichten, hatte ich hehre Vorstellungen davon, wie ich mein historisches Verständnis und die damit verbundenen politischen Debatten dort vermitteln würde, wo scheinbar kaum über Geschichte, Gedenken und Erinnerung gesprochen wird. Viel vager und unkonkreter war mein Bild von der Zielgruppe meiner bevorstehenden Vermittlungsarbeit: Als Guide an der Gedenkstätte Mauthausen hatte ich recht selten mit Lehrlingen zu tun gehabt, die meisten Jugendlichen besuchten die Gedenkstätte in der 8. Schulstufe oder in einer der letzten Klassen einer höheren Schule. Lehrlingsgruppen waren eher eine Ausnahme, wenn auch eine sehr willkommene. Denn Lehrlinge waren älter als die oft noch etwas unreifen 14-jährigen Mittelschülerinnen und -schüler und weniger auf Außenwirkung, Erwartungen und Repräsentanz bedacht als die Jugendlichen aus Gymnasien. Die seltenen Diskussionen mit Lehrlingen an der Gedenkstätte waren meist angetrieben von impulsiven, wenig überlegten, manchmal auch scheinbar unpassenden Fragen, die zu viel spannenderen Auseinandersetzungen führten als die erwartbaren Fragen, die wohlmeinend im Geschichteunterricht