Группа авторов

Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


Скачать книгу

immer noch das am stärksten verbreitete sei (Reiter, 2006, S. 48).1 Es gibt einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens, dass man der Opfer gedenken muss, historisches Wissen aber wird vernachlässigt. Das zeigten nicht zuletzt die unrühmlichen Diskussionen um und die beschränkten Ressourcen im Haus der Geschichte oder auch die Vernachlässigung der Täterforschung.

      Noch ein Szenenwechsel. Wieder Juli 2016, im Center for Humanistic Education (CHE) in Lochamej haGeta’ot. David, Israeli, Sohn jüdischer, aus Österreich vertriebener Eltern, und Channan, Palästinenserin mit israelischem Pass, erzählen ihre Geschichten. Beide arbeiten am CHE mit jungen Jüdinnen und Juden, israelischen Palästinenserinnen und Palästinensern sowie mit Drusinnen und Drusen. Sie sitzen kollegial und wertschätzend nebeneinander und erzählen nacheinander ihre unterschiedlichen Familienerinnerungen an den Kibbuz – für David ist es ein mühsam aufgebautes neues Zuhause der Eltern nach der Flucht vor dem Holocaust, der von der syrischen Armee im Unabhängigkeitskrieg zerstört und von den Kibbuzim erneut aufgebaut wurde, Channan verbindet den Kibbuz in ihrer Nachbarschaft mit gewaltsamer Aneignung von Grund und Boden, mit der Vertreibung von arabischer Bevölkerung aus dem Nachbardorf, mit dem Trauma der „Nakba“ („Katastrophe“). Diese Existenz zweier unterschiedlicher Narrative, die hier so augenscheinlich nebeneinander existieren und an diesem besonderen Ort gleichberechtigt erzählt werden, beeindruckt mich sehr. Ähnlich ergeht es mir zwei Tage später, als die Jugendlichen, die hier Seminarreihen besuchen, aus ihrem Leben erzählen und davon, dass sie an diesem geschützten Ort erstmals die jeweils andere Perspektive hörten und erzählten.

      Warum beschreibe ich diese drei Episoden? Was haben sie miteinander zu tun? Eine Antwort werde ich am Ende dieses Beitrags versuchen. Schauen wir aber zuerst in die schulische Realität.

      Herausforderungen in der Schule

      Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust wird vielfach mit einem Gedenkstättenbesuch in Verbindung gebracht; dabei stehen die zentralen Verbrechensorte im Fokus. Sie sind die wichtigsten Erinnerungsorte an die NS-Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung. In Österreich ist das vor allem die Gedenkstätte Mauthausen. Die meisten Lehrenden, die an den Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen von _erinnern.at_ teilnehmen, haben mit ihren Schülerinnen und Schülern bereits die Gedenkstätte besucht und nehmen dazu oft weite Anreisezeiten in Kauf, womit relativ hohe Fahrtkosten für die Jugendlichen verbunden sind. Die Motive für die Exkursion nach Mauthausen sind vielfältig: So wird das ehemalige Konzentrationslager als „authentischer Ort“ gesehen, als Tatort des Holocaust. Dementsprechend aufgeladen ist die Begegnung mit dem Ort für viele: Auf dem Appellplatz standen die Opfer, in den Baracken mussten sie auf engstem Raum zusammengepfercht schlafen, in der Kommandantur waltete die SS ihres Amtes und ging außerhalb der Lagermauern ihren Vergnügungen nach. Die Stiege führte zum Steinbruch hinunter, die Häftlinge wurden für den Arbeitseinsatz hinunter- und hinaufgetrieben, gedemütigt und gequält. Und dann der Blick in die Gaskammer und das Krematorium. Hier wurden Menschen vergast und verbrannt. So also muss es damals gewesen sein. Und doch ist heute nichts mehr so, wie es damals war.

      Immer noch sagen viele Lehrkräfte, sie würden mit ihren Schülerinnen und Schülern in das „KZ“ fahren, manche reagieren irritiert auf den Hinweis, dass es kein KZ mehr ist, sondern längst eine Gedenkstätte. Und Jugendliche wundern sich oft, dass sie an Ort und Stelle nicht nachempfinden können, was die eingesperrten Menschen damals erlebt und erlitten haben, einige haben deswegen sogar ein schlechtes Gewissen – zumal, wenn das Wetter schön ist und die sanften Hügel des Mühlviertels sich im Licht der Jahreszeiten von ihrer besten Seite zeigen. Aus diesem Grund ziehen es manche Lehrpersonen vor, mit ihren Schulklassen in der kalten Jahreszeit nach Mauthausen zu fahren, damit die Schülerinnen und Schüler wenigstens die Kälte spüren, den eiskalten Wind, der ihnen in die Knochen fährt.

      Dahinter liegt ein zentrales und ehrenwertes Anliegen vieler Lehrpersonen: Jüngere Generationen müssen aufgeklärt und daran erinnert werden, was hier passiert ist. Und dieses Erinnern muss an das Empfinden der verfolgten und vielfach vernichteten Menschen anknüpfen. Das Geschehene können wir nicht mehr rückgängig machen, aber über das Unrecht sprechen, es ins Bewusstsein der nächsten Generation(en) weitertragen, Empathie für die gequälten Menschen wecken, das können und müssen wir. Denn wenn es die Jungen nicht mehr erfahren, vergisst das ganze Land.

      Bei manchen Jugendlichen kommt genau diese Lernerfahrung an. Sie reagieren sehr sensibel, rufen an diesem historischen Ort Bilder und individuelle Schicksale aus Filmen oder Büchern ab, die sie über den Holocaust gelesen oder gesehen haben und sind zutiefst berührt, in ihrer Emotion oftmals überfordert. Andere aber – und es werden immer mehr – können diese Verbindung nicht (mehr) herstellen. Zu weit weg ist die Geschichte von ihrem Leben, mittlerweile ist es bereits die vierte Generation, die im Unterricht diese Geschichte lernt. Darüber hinaus stammen viele Schülerinnen und Schüler aus Elternhäusern oder Ländern, die gar keinen Bezug zum Thema oder aber einen völlig anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Nationalsozialismus sowie auf Jüdinnen und Juden haben. In den Familien der Jugendlichen in der Schule spielen oft andere Verfolgungsgeschichten eine Rolle – offen oder verdrängt. So schreibt Omar Khir Alanam, der als Geflüchteter nach Österreich kam:

      „[…] das Geschichtsbild der Syrer ist ohnehin ein anderes, als man es sich hier vorstellen kann: Denn in den Schulbüchern, die Diktator Assad freigibt, wird behauptet, Hitler habe im Ersten Weltkrieg die Gräueltaten der Juden miterlebt und darum habe er sein Volk später vor ihnen schützen wollen. Dass er in Wahrheit sechs Millionen Juden grausam ermorden ließ, habe ich – ob Sie es glauben oder nicht – tatsächlich erst in Österreich erfahren.“ (Alanam, 2020, S. 10)

      Viele Jugendliche fragen sich, warum sie Mitgefühl für Menschen empfinden sollen, die schon so lang tot sind, mittlerweile wären ohnehin schon fast alle auch eines natürlichen Todes gestorben. Sie können ja nicht mit allen Verfolgten und Ermordeten der Geschichte empathisch sein. Die Verfolgten, die Kriegsopfer, die Leidenden der Gegenwart empfinden sie als näher oder diejenigen aus ihrer Heimat oder der Heimatregion ihrer Eltern. Dazu Bernadette Edtmaier, die eine Studie zum Antisemitismus unter österreichischen Jugendlichen verfasst hat:

      „Manche MuslimInnen, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden, solidarisieren oder identifizieren sich auf Basis ihrer gemeinsamen Religion mit der Seite der PalästinenserInnen, die als muslimische Opfer schlechthin gelten. ‚Die‘ Israelis auf der anderen Seite werden zum Feindbild. Um den Feind zu diskreditieren, wird die Situation der PalästinenserInnen immer wieder mit dem Holocaust verglichen und teilweise sogar gleichgesetzt.“ (Edtmaier, 2019, S. 159)

      Bettina Alavi spricht von einer möglichen „Erinnerungskonkurrenz“, die Jugendliche mit Migrationshintergrund im Zusammenhang mit dem Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust erleben können. Warum beispielsweise nicht über die „Nakba“ sprechen, wenn über das Leiden der Juden so viel geredet wird? (Alavi, 2013, S. 80f.)

      Lehrende, die mit ihren zunehmend heterogenen Schulklassen über Nationalsozialismus und Holocaust sprechen oder Gedenkstätten besuchen, befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen persönlicher Betroffenheit von der Thematik, ihrem pädagogischen Auftrag, den völlig unterschiedlichen Reaktionsmustern ihrer Schülerinnen und Schüler sowie der gesellschaftlichen Erwartung, die einem Gedenkstättenbesuch zugeschrieben wird. Wenn etwa Staatssekretärin Karoline Edtstadler sagt, sie habe

      „[…] das Ziel ausgegeben, dass jeder Schüler einmal in seiner Schulzeit, aber auch alle Migranten und Asylwerber, die neu in Österreich sind, die KZGedenkstätte Mauthausen besuchen sollen. Das kann z. B. im Rahmen der Wertekurse erfolgen. Nur so kann eine Aufklärung über die schrecklichen Ereignisse erreicht werden“. (Kleine Zeitung, 2. Mai 2019)