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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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Antwort auf die Frage, was sein wird, wenn die Überlebenden nicht mehr ihre Geschichte erzählen können, liefern digitale und virtuelle Bildungsangebote zumindest teilweise Antworten. Verschiedene Angebote entwickelte etwa die USC Shoah Foundation z. B. in Form der ZeitzeugInnen-Lernplattform IWitness8, bei der Lernende interaktiv mit Interviews und anderen Quellen arbeiten, oder im Zuge des Projekts „Dimensions in Testimony“9. Als weltweit erstes Projekt ermöglicht „Dimensions in Testimony“ eine Interaktion (bzw. eine Art „Kommunikation“) mit den Erzählungen von Holocaust-Überlebenden. Schülerinnen und Schüler können in eine Frage-Antwort-Interaktion mit vorab mittels moderner 3D-Technologie aufgezeichneten Interviews eintreten und so aktiv an ihrem eigenen Lernprozess mitwirken.

      Trotz neuer technischer (und teils vielversprechender) Vermittlungs- und Erzählformen kann für eine direkte Begegnung mit Zeitzeuginnen und -zeugen kein gleichwertiger Ersatz gefunden werden. Neue und zusätzliche Wege lotet _erinnern.at_ derzeit in einer 2019 ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe aus, in der die Möglichkeiten von Schulgesprächen mit „ZeitzeugInnen der zweiten Generation“ erörtert und pädagogische Empfehlungen erarbeitet werden. Schon jetzt vermitteln auch Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus die Überlebensgeschichten ihrer Eltern oder Großeltern in unterschiedlichen Formaten an Schülerinnen und Schüler.

      Lehren und Lernen in heterogenen Klassenzimmern

      Der faktische Zustand der „Migrationsgesellschaft“ ist in der Integrations- und Bildungspolitik vielerorts die längste Zeit verdrängt und vernachlässigt worden. Erst in den letzten Jahren sind im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs über die Thematisierung und Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust die Begriffe „Migrationsgesellschaft“ und „globalisiertes Klassenzimmer“ zentral geworden. Für beide ist längst eine Hybridität charakteristisch, die imaginierte Bilder einer homogenen Gemeinschaft korrigiert. Nationale Gedächtnisdiskurse und eine bislang mehrheitlich hegemoniale Geschichtsschreibung werden durch unterschiedliche Akteurinnen und Akteure der Migrationsgesellschaft herausgefordert, ergänzt und infrage gestellt.

      Aushandlungsprozesse über Geschichtsbilder und über gegenwärtige und künftige gesellschaftspolitische Entwicklungen finden insbesondere auch im Klassenzimmer statt. Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, mit eigener Fluchtund Migrationserfahrung oder mit Flucht und Migration als Teil der Familiengeschichte, lernen gemeinsam über die NS-Zeit, besuchen Gedenkstätten, treffen Zeitzeuginnen und -zeugen. Lerngruppenzusammensetzungen sind folglich von einer hohen (sozio-)kulturellen Diversität und von diversifizierenden Präkonzepten aller Teilnehmenden geprägt. Während sich für Jugendliche die Frage nach individueller und kollektiver Identität und ihrer Position zur österreichischen bzw. deutschen Vergangenheit und „Verantwortungsgemeinschaft“ stellt, stehen Lehrerinnen und Lehrer sowie außerschulische Pädagoginnen und Pädagogen vor der Herausforderung, nationalstaatliche Narrative und homogenisierte Erinnerungsperspektiven auszuweiten und jene von zugewanderten Lernenden miteinzubeziehen. Der schulbuchbasierte Unterricht ist im deutschsprachigen Raum immer noch ein weitgehend national orientierter; über die NS-Verbrechen in Südosteuropa und die Schauplätze des Zweiten Weltkrieges in den kolonialisierten Ländern erfahren Schülerinnen und Schüler erstaunlich wenig. „In den Bezugsangeboten bleiben sie daher oft in der Trias TäterInnen-Opfer-ZuseherInnen angerufen, die offensichtlich wenig Raum für andere Perspektiven lässt (wie etwa für Widerstandsdiskurse der PartisanInnen oder für postkoloniale Bezüge, aber auch für widersprüchliche Erinnerungskontexte, wie etwa in Algerien, dem Iran, Palästina etc.).“ (Sternfeld, 2016)

      Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust ist als globale Geschichte mit globalen Auswirkungen zu vermitteln; die Erinnerung daran kann sich demzufolge ebenfalls nicht an nationalstaatliche Grenzen halten. Angesichts der globalen Dimensionen von Weltkrieg und Holocaust ist es zudem nicht unwahrscheinlich, dass migrierte Jugendliche einen familiären Bezug zu den verhandelten Themen haben. Wesentlich ist, Erinnerungen nicht als miteinander in Konkurrenz stehend zu begreifen oder zu hierarchisieren.

      Pädagogisch-didaktisch reflektierte schulische oder außerschulische Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust sollte interkulturelle Perspektiven insofern berücksichtigen, dass der Fokus auf der „Migrationsgesellschaft als Kontext statt auf Migrant[Inn]en als Zielgruppe“ liegt (Kühner, 2008). Als soziale Kondition betrifft „Migrationsgesellschaft“ schließlich sämtliche Teilhabende, unabhängig von ihrer Herkunft. Astrid Messerschmid formuliert die Anforderung so: „Die Wissensvermittlung über den Holocaust – sein Ausmaß, die Art der Durchführung und seine ideologische Begründung – kann keiner Selbstbestätigung dienen über das eigene moralisch gefestigte Geschichtsbewusstsein oder über einen nationalkollektiven Konsens der Aufarbeitung“ (Messerschmidt, 2010).

      Nicht hegemoniale Wissensproduktion, sondern Heterogenität in der Vermittlerpraxis sowie eine stärkere Subjektorientierung sollten als zentrale Ziele der Geschichtsvermittlung in post-migrantischen Gesellschaften formuliert werden.

      Multiperspektivische Lehr- und Lernmaterialien mit Gegenwartsbezug

      Zukunftsweisende Projekte

      Was künftige Entwicklungen und Perspektiven in der Vermittlungsarbeit von Nationalsozialismus und Holocaust betrifft, sei auf ein innovatives Bildungsangebot in Kanada verwiesen, wo spezielle Workshops für Neuimmigrantinnen und -immigranten konzipiert wurden, die den Spracherwerb und das Lernen über den Holocaust verknüpfen. In Kombination mit spezifischen Sprachlernmethoden helfen die von der bereits erwähnten IWitness-Plattform der USC Shoah Foundation stammenden Videointerviews die neue Sprache zu erlernen, den Wortschatz aufzubauen, sowie gleichzeitig die Geschichte des Holocaust zu vermitteln. Lernenden werden konkrete Beispiele von Personen gezeigt, die flüchten mussten, in ein neues Land eingewandert sind und die notwendigen Fähigkeiten erworben haben, um sich erfolgreich in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Auch