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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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kennen darüber hinaus handelnde und leidende Menschen aus der Vergangenheit und können deren Handlungsspielräume einschätzen (Personalisierung/Personifizierung) (Schneider, 2017): Welche Schweizerinnen und Schweizer wurden als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, und was war die Motivation für ihr Handeln? (Wisard, 2007)

      (8.) … können in die Geschichte eintauchen (Immersion) und auch eine reflektierende Distanz einnehmen (Reflexionsfähigkeit) (Knoch, 2020): Wie gelingt es mir nachzuvollziehen, was die Menschen damals auf der Flucht erlebten? Welche Quellen helfen mir dabei?

      (9.) … können mit Menschen mitfühlen (Emotion) und Prozesse analysieren (Kognition) (Brauer, 2013): Kann ich gleichzeitig mit den Opfern mitfühlen und ihr Schicksal reflektiert analysieren?

      (10.) … denken kritisch, nehmen also Sachen nicht einfach so hin, wie sie scheinen, sondern fragen sich, ob die Sachen wirklich so sind, wie sie scheinen (Fink, 2017): War es wirklich so, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr Flüchtlinge hätte aufnehmen können, als sie es tat? (Bonhage, 2006, S. 106–115)

      (11.) … orientieren ihr Sein und Handeln an Werten (Moralisches Bewusstsein) (Pandel, 2005, S. 20): Welche Möglichkeiten gibt es, dass sich Auschwitz nicht wiederholt?

      Historisch gebildete Menschen können gut mit Gesellschaft umgehen. Sie …

      (12.) … sind in der Lage, ihr Sein und Handeln an der Gegenwart und der Lebenswelt zu orientieren und sich gleichzeitig auch davon zu lösen (Buck, 2012; Gatzka, 2019): Drohen auch heute in unserer Welt Völkermorde, und was kann ich dazu beitragen, sie, wenn immer möglich, zu verhindern?

      (13.) … kennen und thematisieren ausgewählte Episoden aus der Vergangenheit, um daran Schlüsselprobleme der gegenwärtigen Gesellschaft zu zeigen (Klafki, 1985): Gibt es einen gerechten Krieg?

      (14.) … haben die gesellschaftlichen Grundbedürfnisse (Ernährung, Wasser/Luft, Kleidung, Wohnen, Zusammenleben, Bildung, Arbeit/Erholung, Kommunikation u. a. m.) im Blick und stellen sich die Frage, welche Faktoren in dieser und jener Zeit die Befriedigung der Bedürfnisse erleichtert und welche sie erschwert haben (Gautschi, 2019a, S. 50): Welche Auswirkungen hatten die Nürnberger Rassengesetze auf das Alltagsleben von Jüdinnen und Juden in Deutschland ab dem Jahr 1935?

      (15.) … thematisieren Inklusion und Exklusion (Völkel, 2017): Was waren die ersten Anzeichen für die Exklusion von Jüdinnen und Juden, und welche Möglichkeiten hätte es gegeben, dies zu verhindern?

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      Lehren und Lernen über den Holocaust dient also der Verpflichtung, Jugendlichen historische Bildung anzubieten und sie zu befähigen, gut mit Geschichte, mit Gesellschaft und mit sich selber umzugehen. Bei der Thematisierung von Holocaust scheinen auf exemplarische Art und Weise viele Grundfragen des menschlichen Handelns auf, die mit Grundfragen historischer Bildung zusammenhängen.

      Natürlich ist es weder möglich noch erstrebenswert, mit jeder schulischen Thematisierung des Holocaust alle Aspekte historischer Bildung zu vermitteln oder alle Grundfragen menschlichen Handelns zu stellen. Die oben genannten Aspekte und Fragen dienen jedoch als orientierender Kompass für die Entwicklung von Inszenierungen, wie im Folgenden am Beispiel der App „Fliehen vor dem Holocaust“ aufgezeigt werden soll (vgl. dazu Gautschi, 2018).

      App „Fliehen vor dem Holocaust“

      Nach dem Download der App aus dem Internet startet ein Trailer, der mit der Aussage „In manchen Räumen begegnet man Erinnerungen“ beginnt. Eine Jugendliche tritt in ein zuerst leeres Zimmer und entdeckt dann fünf Schwarz-Weiß-Fotografien junger Menschen. Sie nimmt eine dieser Fotografien von der Wand, worauf die darauf abgebildete Frau zu sprechen beginnt und von der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland erzählt, wie sie dabei von ihren Eltern getrennt wurde und sie nie mehr sah. Es zeigt sich gegen Schluss des Trailers, dass die Geschichte der Frau, Sophie Haber, eine von fünf Geschichten ist, die in der App erzählt werden.

      Auf dem Bildschirm werden danach die fünf Menschen kurz vorgestellt. Die Nutzerinnen und Nutzer, meist Schülerinnen und Schüler, erfahren durch Anklicken der Porträtaufnahmen den Namen der Person sowie eine Kürzestzusammenfassung der Geschichte, zum Beispiel: „Eva Koralnik, geb. 1936, flieht als Achtjährige aus Budapest in die Schweiz“. Nachdem man sich für einen Menschen und eine Geschichte entschieden hat, startet ein rund 20-minütiges Video. Es handelt sich um ein geschnittenes Zeitzeugeninterview, das in diesem Fall Eva Koralnik in Porträtaufnahme zeigt, während sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Am Schluss des Videos werden den Schülerinnen und Schülern vier Aspekte präsentiert, von denen sie zwei für die Weiterarbeit auswählen können, z. B. „Leben in Budapest“ und „Lebensretter Harald Feller“.

      Jetzt folgen zu den gewählten Aspekten eine Reihe von Aufgaben, welche die Jugendlichen kognitiv aktivieren und sie zu einer intensiven Begegnung mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie dem Thema anregen. Sie müssen Kurzantworten schreiben, Zitate auswählen, Eindrücke festhalten, in Multiple-Choice-Fragen korrekte Antworten ankreuzen, Satzanfänge ergänzen, aus Textbausteinen einen Text zusammenfügen und selbst kurze Texte schreiben. Durch einen Epochenwechsel beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler gegen Schluss des rund 45-minütigen Studiums des Themas „Fliehen vor dem Holocaust“ schließlich auch mit dem Phänomen „Flucht“ in unserer heutigen Zeit.

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       Standbild aus dem Trailer zur App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“. Der Trailer findet sich auf https://vimeo.com/251810470 (aufgerufen am 31.10.2020). Mit der App werden die Geschichten von fünf Menschen erzählt, die vor den Nazis flüchten mussten. Die Nutzerinnen und Nutzer können die Geschichte auswählen, die sie am meisten interessiert oder betrifft.

      Diejenigen Materialien aus der App, mit welchen sich die Schülerinnen und Schüler beschäftigen, sowie ihre formulierten Überlegungen, werden in einem individuellen Album im PDF-Format mit dem Titel „Mein Zeitzeugnis“ gesammelt. Die Jugendlichen mailen dieses „Zeitzeugnis“ an Personen ihrer Wahl, in schulischen Zusammenhängen auch an die Lehrperson, und sie selbst erhalten ihre Arbeit ebenfalls zugeschickt, um damit weiter zu studieren oder sie allenfalls ins Portfolio abzulegen. Weil die Schülerinnen und Schüler selbst ein Dokument herstellen und eine Geschichte – ihr eigenes Zeitzeugnis – erzählen, wird wirkungsvolles historisches Lernen ermöglicht.

      Vier Kernideen leiteten die Entwicklungsarbeit:

      1. Im Zentrum der App stehen videografierte Zeitzeugeninterviews mit Menschen, die über ihre Erlebnisse berichten. Schülerinnen und Schüler sollen diesen Fliehenden begegnen, ihre Namen kennen, ihre Gesichter sehen, ihre Geschichten hören und verstehen.

      2. Die App ist ein variables Lehrangebot für die schulische Vermittlung. Für den Einsatz der App bieten sich drei Unterrichtsmöglichkeiten an: Einzel- oder Kleingruppenarbeiten im Klassenzimmer am je eigenen Gerät; Präsentation via Beamer oder interaktivem Whiteboard durch die Lehrperson; oder die Lernenden nutzen die App zu Hause und die von ihnen erstellten Alben werden danach im Klassenzimmer verglichen und diskutiert.

      3. Die Lernenden werden durch einen vollständigen