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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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      Raul Hilberg, der große Chronist des Holocaust, dessen Werk lange überhaupt ignoriert und noch viel länger nicht ins Deutsche übersetzt worden war, formulierte das einmal so: Man müsse zunächst die Verfolger analysieren, „… weil nur der Täter, nicht das Opfer wusste, was am nächsten Tag geschehen würde. Die Täter waren ausschlaggebend. Man kann nicht mit der Reaktion anfangen.“

      In dieser Einschätzung trifft er sich mit dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno, der schon 1966 betonte, wir könnten von den Erfahrungen der Opfer gar nichts lernen, wenn es uns darum gehe, zu verhindern, dass sich „Auschwitz“ wiederholt.

      Vielmehr müssten wir uns mit den Tätern und dem gesellschaftspolitischen System beschäftigen, das diese Taten hervorbrachte.

      In anderen Worten, es bedarf der geschichtswissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen und anderer Forschung, die zu erklären versucht, was jenen Menschen widerfuhr, die zu Opfern gemacht wurden.

      Wer war am Völkermord der Nationalsozialisten beteiligt?

      Das beginnt bei den Schreibkräften, die Listen der zu Deportierenden schrieben, und reicht hinauf bis zu Hitler, Himmler und dem nationalsozialistischen Führungspersonal. Vom Lokführer der Deportationszüge bis zu Polizeieinheiten an den Erschießungsgräben. Die Leute, die sich um Hausrat balgten, Wohnungen nahmen, Posten besetzten. Die Gendarmen, Volkssturmleute und Hitlerjungen, welche die Todesmärsche hier in Gleisdorf begleiteten und so viele Menschen dabei ermordeten.

      Völkermord ist eben ein gesellschaftlicher Vorgang, der die Involvierung von vielen bedingt. Und: Es gibt beim Völkermord keine „Zuschauer“. Denn die Menschen, die zusahen und nichts dagegen taten, rechtfertigten und unterstützten die Täter. Es machte einen entscheidenden Unterschied, ob jemand hungernden Menschen ein Stück Brot zuzustecken versucht, oder ob jemand das verhindert, indem er den schlägt, der zu helfen versucht.

      Nach 1945 – um nochmals bei Christian Meier anzuschließen – wurde zunächst versucht, gesellschaftlichen Frieden zu stiften, indem die Nazis integriert wurden und die Verbrechen bzw. die Beteiligung so vieler an diesen Verbrechen nicht zur Kenntnis genommen wurde. Das geschah auf Kosten der zu Opfern gemachten Menschen, die zumeist nicht jene anteilnehmende Zuwendung erfuhren, derer sie so dringend bedurft hätten.

      Mit großem zeitlichem Abstand begann die intensivere Auseinandersetzung mit der Zeit der nationalsozialistischen Massengewalt – in der Geschichtsschreibung, in den Medien, aber auch in der juristischen Aufarbeitung. Der vermeintliche Gegensatz zwischen einem angeordneten Vergessen zur Sicherung des sozialen Friedens und der unabweislichen Erinnerung an den Holocaust kann vielleicht durch einen gesellschaftlichen Bearbeitungsprozess aufgehoben werden, in welchem sowohl die emotionale Dimension der Trauer über die Verluste und die Gewalt wie auch die kognitive Bearbeitung der historischen Kausalitäten Raum haben.

      Lassen Sie mich nochmals den Bogen zeigen, den ich zu schlagen versuchte.

      Die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern hat den Holocaust nicht verhindert. Das Gedenken an den Holocaust hat den Völkermord in Ruanda 1994 sowie die Massengewalt in Indonesien (1965–1968) und in Kambodscha (1975–1979) genauso wenig verhindert wie den Massenmord an muslimischen Männern in Srebrenica (Bosnien und Herzegowina, 1995). Die in Srebrenica versagenden holländischen Soldaten hatten in ihrer Erziehung ganz sicher über die Nazi-Gräuel gelernt. Aber dieses Gelernte half ihnen nichts, als sie sich entschieden, die bosnisch-muslimischen Männer den serbischen Truppen auszuliefern.

      Die Entscheidungsträger in Europa, die ihre Truppen aus Ruanda abzogen, um die der kanadische General Dallaire händeringend bat, weil er wusste, mit relativ wenig mehr militärischer Macht könnte er den Mördertrupps in Ruanda Einhalt gebieten – diese Entscheidungsträger wussten wahrscheinlich über „Auschwitz“ Bescheid und manch einer mag auch schon in Gedenkreden „niemals wieder“ gesagt haben. Als es drauf ankam, versagten sie.

      Die zentrale Frage ist eine recht einfache Frage: Was hat das mit mir zu tun?

      Diese einfache Frage ist aber ungemein schwer zu beantworten. Manche halten es nicht aus, dass die Antwort jeweils so schwer zu finden ist. Sie entladen die so entstehenden Spannungen, indem sie fordern, militärisch zuzuschlagen, ohne zu bedenken, wie es danach weitergehen soll.

      Andere weichen dieser Frage aus, indem sie sich gar nicht damit beschäftigen oder sie investieren ihre Emotionen und Energien in Gedenken, ohne dass aus diesem Gedenken ein Gedanke für die Gegenwart erwächst.

      Doch es gibt sinnvolle Antworten auf die Frage, was diese Geschichten und diese Geschichte mit uns zu tun hat.

      Eine dieser möglichen Antworten ließ der aus einer jüdischen Familie stammende Jurist Fritz Bauer in den 1950er-Jahren am Eingang des damaligen Neubaus der Staatsanwaltschaft Braunschweig groß anschreiben:

      „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

      Wie Sie vielleicht wissen, ist das etwas verkürzt der erste Absatz des ersten Artikels der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes.

      Fritz Bauer war als Sozialdemokrat 1933 von den Nazis inhaftiert worden, bevor er fliehen konnte. Nach der Befreiung kam er ans Landesgericht Braunschweig. Bekannt wurde Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt in Frankfurt, wo er den Auschwitz-Prozess (1963–1965) gegen 24 Männer vorbereitete, die beschuldigt wurden, im Konzentrationslager Auschwitz Menschen getötet zu haben.

      Die Wahrung der Menschenwürde ist ganz sicher eine wichtige Lehre aus den erinnerten schlimmen Zeiten. Gilt sie noch heute? Haben wir noch andere Antworten auf die Frage: „Was hat das mit mir zu tun?“

      Literaturverzeichnis

      Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt (München 1979).

      Ihrig, Stefan: Justifying Genocide. Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler (Cambridge, Mass. 2016).

      Kieser, Hans Lukas / Dominik Schaller (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah (Zürich 2002).

      LaCapra, Dominique: Writing History, Writing Trauma (Baltimore, London 2001).

      Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit (München 2010).

      Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh (Berlin 1933).

      Good Man in Hell: General Romeo Dallaire and the Rwanda Genocide (Video-Interview United States Holocaust Memorial Museum 2003).

      „Ich fälle kein Urteil“. Interview mit Raul Hilberg, in: taz, 7.12.2002.

      Anmerkung

      1 Gedenkrede in Gleisdorf (Steiermark) anlässlich des Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, 5. Mai 2015. Die Rede wurde für die Publikation leicht überarbeitet.

      Peter Gautschi

      Holocaust und Historische Bildung – Wieso und wie der nationalsozialistische Völkermord im Geschichtsunterricht thematisiert werden soll

      Dass die Thematisierung des Holocaust in der Schule zum Pflichtprogramm gehört, ist mittlerweile unbestritten. Dies ist im deutschsprachigen Raum auch ein Verdienst von _erinnern.at_. Praxistaugliche Unterrichtsvorschläge, theoretische Erwägungen sowie ein Engagement in Lehrplanung und Schulpolitik haben dazu geführt, dass viele Schülerinnen und Schüler in der obligatorischen Schule in der einen oder anderen Weise dem nationalsozialistischen Völkermord begegnen und dabei neues Wissen erwerben, Können aufbauen und Einstellungen entwickeln. Während also ein großer Konsens besteht, dass das Lehren und Lernen über den Holocaust zum schulischen Alltag auf den Sekundarstufen gehört, ist weniger klar, mit welchen Zielen und wie der Holocaust im Geschichtsunterricht