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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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Europa – über Belgien, Frankreich, die Schweiz, Spanien und Portugal. Dabei muss das Mädchen und müssen die Videospielerinnen oder -spieler unzählige gefährliche Situationen bewältigen: Sie müssen aus einem besetzten Haus fliehen, an Häschern vorbei über eine Straße schleichen, an Abflussrohren entlang auf ein Dach klettern und von dort wieder hinunter auf die Straße kommen, über bewachte Brücken sprinten und Dilemmasituationen bewältigen: Sollen sie sich in Amsterdam verstecken oder aus Amsterdam fliehen?

Illustration

       Amsterdam im Jahr 1943, Schauplatz im Videospiel „When We Disappear“. Das Mädchen links im Bild versucht der drohenden Deportation zu entkommen. Es muss den richtigen Moment erwischen, um unerkannt die Straße zu überqueren. (© Inlusio Interactive)

      Die dargestellte Geschichte basiert auf erzählten und erforschten Gegebenheiten von Kindern und Jugendlichen, die während des Zweiten Weltkriegs quer durch Europa flohen, um sich vor der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu retten. Einige von ihnen wurden durch Fluchthilfe-Organisationen versteckt oder auf Fluchtrouten in Sicherheit gebracht, andere durch Widerstandskämpferinnen und -kämpfer unterstützt, aber viele verschwanden, wurden verraten, entdeckt, gefangen genommen, deportiert, ermordet. Um erfolgreich zu fliehen, benötigen die Gamer Unterstützung und Informationen. Diese bekommen sie u. a. dadurch, dass ebenfalls im Videospiel die Schwester des Mädchens herauszufinden versucht, was genau auf der Flucht geschieht. Mit ihren Erinnerungen, die ins Game eingeblendet werden, hilft sie den Videospielerinnen und -spielern, den Verfolgerinnen und Verfolgern zu entkommen.

      „When We Disappear“ nutzt erstens die Möglichkeiten der Digitalisierung, um neue Vermittlungsangebote zu schaffen. Auf diese Weise wird vor allem in schulischen Vermittlungszusammenhängen eine Kultur der Digitalität aufgebaut (Stalder, 2016), verstanden als Verschränkung von digitalen und analogen Wirklichkeiten, die so die Lebenswelten beeinflussen und Bildung ermöglichen. „When We Disappear“ nutzt zweitens die Chancen von Gamification (Gautschi, 2018). Hier wird die Fluchtgeschichte eines Mädchens zur „Als-ob-Handlung“. Die Gamer werden aktiviert, in die Geschichte verwickelt, und sie bekommen „Handlungsmacht“ (Agency) (Hewson, 2010). McCall hat dies als „participatory public history“ bezeichnet (McCall, 2019, S. 38), wo Probehandeln möglich wird. „When We Disappear“ ist ein Labor für Fliehen. Es simuliert die Situation im Jahr 1943 von jungen Menschen in Amsterdam und konfrontiert die Videospielerinnen und -spieler ständig mit den Konsequenzen ihres Handelns. Damit werden sie in die Situation hineingezogen, müssen abwägen, und sie werden emotional berührt. Im Akt des Spieles tauchen Nutzerinnen und Nutzer ein ins Universum des Historischen und konstruieren Geschichte (vgl. Giere, 2019, S. 51).

      Ob „When We Disappear“ und andere vergleichbare Angebote und neue Vermittlungsinszenierungen tatsächlich einen Beitrag zur historischen Bildung im Allgemeinen und zur Persönlichkeitsbildung im Besonderen leisten, muss sich allerdings erst noch zeigen. Entscheidend ist, dass Emotion mit Kognition kontextualisiert, Immersion mit Reflexion ergänzt, Identität mit Alterität bereichert, kritisches Denken angeregt und moralische Fragen verhandelt werden. Dies alles in der Vermittlungsinszenierung selbst anzulegen, wäre – sofern überhaupt möglich – hohe didaktische Kunst. Etwas einfacher ist, wenn dies in schulischen Zusammenhängen die Lehrerinnen und Lehrer gewährleisten. Ihre Rolle für gelingende historische Bildung und erfolgreiches Lehren und Lernen über den Holocaust wird auch in Zukunft zentral sein.

      Literaturverzeichnis

      Barricelli, Michele / Peter Gautschi / Andreas Körber: Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle, in: Barricelli, Michele / Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Schwalbach/Ts. 2012) S. 207–235.

      Bergmann, Klaus: Identität, in: Bergmann, Klaus u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Seelze-Velber 19975) S. 23–28.

      Bonhage, Barbara / Peter Gautschi / Jan Hodel u. a.: Hinschauen und Nachfragen. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen (Zürich 2006).

      Borries, Bodo von: Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage (Schwalbach/Ts. 2004).

      Brauer, Juliane / Martin Lücke (Hrsg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven (Göttingen 2013).

      Brüning, Christina Isabel: Holocaust Education in der heterogenen Gesellschaft. Eine Studie zum Einsatz videographierter Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Genozide im Unterricht (Berlin 2018).

      Buck, Thomas Martin: Lebenswelt- und Gegenwartsbezug, in: Barricelli, Michele / Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Schwalbach/Ts. 2012) S. 289–301.

      Buschkühle, Carl-Peter / Ludwig Duncker / Vadim Oswalt (Hrsg.): Bildung zwischen Standardisierung und Heterogenität – ein interdisziplinärer Diskurs (Wiesbaden 2009).

      Dressler, Jens: Vom Sinn des Lernens an der Geschichte. Historische Bildung in schultheoretischer Sicht (Stuttgart 2012).

      Eckmann, Monique / Stevick Doyle / Jolanta Ambrosewicz-Jacobs: Research in Teaching and Learning about the Holocaust. A Dialogue Beyond Borders, Hrsg. International Holocaust Remembrance Alliance (Berlin 2017).

      Fink, Nadine: Geschichte vermitteln um kritisches Denken auszubilden?, in: Public History Weekly 5, 27 (2017), https://public-history-weekly.degruyter.com/5-2017-27/teaching-history-in-order-to-develop-critical-thinking/ (3.11.2020).

      Fink, Nadine: The Force of Fiction, in: Public History Weekly 6, 5 (2018), https://public-history-weekly.degruyter.com/6-2018-5/the-force-of-fiction/ (3.11.2020).

      Fracapane, Karel / Matthias Haß in collaboration with Topography of Terror Foundation (Hrsg.): Holocaust Education in a Global Context (Paris 2014).

      Gatzka, Claudia: Nationalsozialismus: Was wir heute lernen können, in: Public History Weekly 7, 14 (2019), https://public-history-weekly.degruyter.com/7-2019-14/nazi-past-present/ (3.11.2020).

      Gautschi, Peter: Gamification als Zaubermittel für Geschichtsvermittlung?, in: Public History Weekly 6, 37 (2018), https://public-history-weekly.degruyter.com/6-2017-37/gamification-cure-public-history/ (3.11.2020).

      Gautschi, Peter: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise (Schwalbach/Ts. 20153).

      Gautschi, Peter: Lehrer/-innenbildung für das Integrationsfach „Gesellschaftswissenschaften“ – Impulse, Kernideen, Perspektiven, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 10, 2 (2019a) S. 43–74.

      Gautschi, Peter: What Influences Public History the Most, in: Public History Weekly 7, 19 (2019b), https://public-history-weekly.degruyter.com/7-2019-19/historical-beliefs/ (20.10.2020).

      Gautschi, Peter / Karin Fuchs / Hans Utz: Geschichte kompetenzorientiert unterrichten, in: Fuchs, Karin / Peter Gautschi / Hans Utz (Hrsg.): Zeitreise 2. Begleitband (Baar 2017) S. 14–32.

      Gautschi, Peter / Markus Bernhardt / Ulrich Mayer: Guter Geschichtsunterricht – Prinzipien, in: Barricelli, Michele / Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Schwalbach/Ts. 2012) S. 326–348.

      Gautschi, Peter / Martin Lücke: Historisches Lernen im digitalen Klassenzimmer. Das Projekt „Shoah im schulischen Alltag“, in: Sandkühler, Thomas / Charlotte Bühl-Gramer / Anke John u. a. (Hrsg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung