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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung


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Melodie der Haydnhymne ertönte … erhob sich mein Vater und wir alle mit ihm, mit Tränen in den Augen. Was meinen Vater damals wohl am meisten erschütterte, war meine Feststellung: ‚Nun sind wir die Armenier des Dritten Reiches.‘“

      Der Schüler bezog sich auf den Völkermord an den Armeniern, der damals vor gut zwanzig Jahren stattgefunden hatte.

      Am 24. April jeden Jahres gedenken wir des Völkermordes an den Armeniern, dem zwischen etwa 800.000 und 1.5 Mio. Armenier sowie assyrische bzw. aramäische Christen und Griechen zum Opfer gefallen waren.

      Dieser Völkermord an den Armeniern war in den 1930er-Jahren in Deutschland und Österreich bekannt – auch, aber nicht nur durch den 1933 erschienenen historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel. Werfel war auf einer Orientreise 1929 in Damaskus auf verelendete armenische Kinder aufmerksam geworden, auf Waisen, deren Eltern ermordet worden waren. 1934 wurde der Roman in Deutschland wegen „Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“ verboten.

      Der Roman wurde von vielen Juden während der nationalsozialistischen Verfolgungen gelesen. Als 1943 im Ghetto von Bialystok (Polen) dort Eingeschlossene diskutierten, ob bzw. wie sie sich wehren könnten, bezogen sie sich auf den Roman von Franz Werfel. Nur dass es im Gegensatz zum Roman in Bialystok keinen 40. Tag gab, an dem französische Kriegsschiffe die Rettung gebracht hätten.

      Es gab auch personelle Verbindungen vom Völkermord an den Armeniern zum Nationalsozialismus.

      Ein Beispiel dafür ist der damalige deutsche Konsul von Erzurum (Türkei), Max Erwin von Scheubner-Richter, der während des Ersten Weltkrieges über den Völkermord an das Auswärtige Amt berichtet hatte, nach 1920 der NSDAP beitrat und erster „politischer Generalstabschef“ von Adolf Hitler wurde. Er wurde beim „Marsch auf die Feldherrnhalle“ am 10. November 1923 von der Polizei erschossen. Scheubner-Richter war einer derjenigen, denen Hitler sein Buch „Mein Kampf“ widmete.

      Wir können wohl davon ausgehen, dass Hitler genau wusste, wovon er sprach, als er vor dem Überfall auf Polen die Vernichtung der polnischen Eliten anwies und zynisch die rhetorische Frage stellte: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“

      Doch es gibt auch andere Verbindungen vom Völkermord an den Armeniern in die Zeit des Nationalsozialismus:

      Zum Beispiel Carl Lutz

      Von den Gräueltaten hatte Carl Lutz als Schweizer Konsul im britischen Palästina durch einen Schweizer Missionar erfahren. 1944 dann amtete Lutz als Konsul in Budapest und rettete dort Zehntausende verfolgte Juden, indem er sogenannte „Schutzpässe“ für eine Auswanderung nach Palästina ausstellte und sogenannte „Schweizer Schutzhäuser“ einrichtete. In der Schweiz wurde er für sein eigenmächtiges Vorgehen kritisiert und erst nach seinem Tode gewürdigt.

      Der Völkermord an den Armeniern reicht bis in unsere Gegenwart: In diesen Tagen machen die Mördertruppen des sogenannten Islamischen Staates Jagd auf aramäische Christen in den Dörfern im Nordosten Syriens. Sie foltern, töten, vertreiben die Menschen. Die 35 assyrischen Dörfer am Fluss Chabur waren durch aramäische Christen gegründet worden, die den Völkermord an den Armeniern und Christen vor hundert Jahren überlebt hatten. Und in unseren Tagen sehen wir alle zu, wie eine weitere Verfolgungswelle wahrscheinlich die Reste des christlichen Lebens dieser Region auf grausamste Art und Weise zerstört.

      Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern war in den 1930er-Jahren durchaus lebendig. Sie hat die bald darauf einsetzende Massengewalt und auch den Holocaust nicht verhindert.

      Wir erinnern uns heuer an den Völkermord an den Armeniern – doch was bedeutet das konkret? Was leiten wir aus diesem Gedenken an vergangenen Schrecken ab?

      Es ist ungemein schwierig, aus dem Gedenken an schlimmes vergangenes Geschehen Anleitungen für richtiges gegenwärtiges Handeln abzuleiten.

      Der Althistoriker Christian Meier aus München schrieb ein schmales Büchlein über Erinnern und Vergessen. Es trägt den Titel: „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit.“

      An den Anfang des Buchs setzt er zwei Beispiele zum Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“. Einmal zitiert er die Worte des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog, der 1996 sagte: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

      Diesem Gebot des Erinnerns setzt Meier einen Friedensvertrag von 851 gegenüber, in dem drei zerstrittene Karolinger Verständigung suchten. In diesem Vertrag wird eine völlige „Tilgung“ alles vergangenen Unrechts und aller Übel aus den Herzen der Beteiligten gefordert, nichts davon sollte im Gedächtnis erhalten bleiben, damit es nicht zur Vergeltung käme. Dies sollte dem Rachebedürfnis begegnen und eine Gewaltspirale verhindern, in der Gewalt und Gegengewalt sich bald nicht mehr unterscheiden – es diente der Sicherung des sozialen Friedens.

      Meier führt eine ganze Reihe von Beschlüssen aus der Antike an, die alle das Vergessen von schlimmen Taten forderten. Allenfalls die Hauptschuldigen sollen bestraft werden, für den Rest galt „Amnestia“, was wörtlich „Nicht-Erinnerung“ bedeutet. Die Friedensverträge enthielten Bestimmungen, die versuchen, einen Schlusspunkt gegen die Zyklen von Gewalt zu setzen. Sie enthielten Bestimmungen zum Vergessen und Vergeben, damit die ehemals verfeindeten Gruppen einen neuen Anfang machen können, friedfertig miteinander zu leben.

      Doch auch für Christian Meier sind die NS-Zeit und vor allem der Völkermord an den Juden ein einschneidendes Ereignis, das nicht vergessen werden kann.

      Für die nationalsozialistischen Massenmorde gilt ganz besonders, dass dieses zur Herstellung des sozialen Friedens angeordnete Vergessen mit den „unabweisbaren“ Erinnerungen an die Verbrechen konfligiert: Die Erinnerungen an die erlittene Gewalt sind insbesondere für die Opfer „unabweisbar“.

      Opfern wie auch Tätern ist zumeist gerade in den ersten Jahrzehnten nach den Gewaltereignissen gemeinsam, dass diese Erinnerungen zur Seite geschoben werden. Die zu Opfern gewordenen Menschen müssen ihr Leben neu aufbauen, sie wollen Familien gründen und haben zumeist gar keine Gelegenheit, sich diesen Erinnerungen hinzugeben. Und doch haben diese Erinnerungen eine ganz eigene Dynamik. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, war von seinen Eltern in einem katholischen Internat in Sicherheit gebracht worden. Die Eltern wurden deportiert und später ermordet und der junge Pavel, wie er damals hieß, konvertierte zum Katholizismus. Nach dem Krieg besann er sich wieder seiner jüdischen Identität. 1979 schrieb er über seine Geschichte und die Geschichte seiner Familie und gab dem Buch den Titel „Wenn die Erinnerung kommt“. Dem Buch stellt er ein Zitat voran: „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe …“

      Es lohnt, diese notwendige Verbindung von Wissen und Erinnerung festzuhalten und daran anknüpfend die Frage zu stellen, was denn ein Gedenken wert ist, wenn es nicht gleichzeitig ein Ringen um Wissen, um Erkenntnis ist?

      Um wieder auf die unabweisbaren Erinnerungen zurückzukommen: Die ehemaligen Nationalsozialisten und insbesondere die Täter hatten jeden Grund, ihre Integration in die Nachkriegsgesellschaft nicht durch diese Erinnerungen zu gefährden bzw. sie nur mit Gleichgesinnten zu teilen.

      Es dauerte recht lange, bis die Erinnerungen der zu Opfern gemachten Menschen öffentlich vernehmbar wurden und bis die Taten ins öffentliche Bewusstsein gelangten.

      Die Erfahrungen und Erzählungen der Verfolgten sind deshalb besonders wichtig, weil sie einer abwehrenden Gesellschaft erzählen, was Menschen widerfuhr, wie sich die große Politik und wie sich diese massenhafte Gewalt ganz konkret im Leben von Menschen auswirkten, und was es heißt, mit den Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen weiterzuleben.

      Es ist wichtig, diesen Erfahrungen Raum zu geben und den Menschen zuzuhören, die bereit sind, darüber zu sprechen, weil damit das Leid anerkannt wird. Durch den Akt des Zuhörens und der Anteilnahme wird den vormals Ausgeschlossenen ein besonderer Platz in der Gesellschaft eingeräumt.

      Doch gibt