Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit


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sich durch äu­ße­re Um­stän­de ge­hin­dert, und wie ich schon frü­her wuss­te, war er we­der mit dem Kon­sis­to­ri­um, noch den Schol­ar­chen, noch den Geist­li­chen, noch auch den Leh­rern zu­frie­den. Sei­nem Na­tu­rell, das sich zum Auf­pas­sen auf Feh­ler und Män­gel und zur Sa­ti­re hin­neig­te, ließ er so­wohl in Pro­gram­men als in öf­fent­li­chen Re­den frei­en Lauf, und wie Lu­ci­an fast der ein­zi­ge Schrift­stel­ler war, den er las und schätz­te, so würz­te er al­les, was er sag­te und schrieb, mit bei­zen­den In­gre­di­en­zi­en.

      Glück­li­cher­wei­se für die­je­ni­gen, mit wel­chen er un­zu­frie­den war, ging er nie­mals di­rekt zu Wer­ke, son­dern schraub­te nur mit Be­zü­gen, An­spie­lun­gen, klas­si­schen Stel­len und bib­li­schen Sprü­chen auf die Män­gel hin, die er zu rü­gen ge­dach­te. Da­bei war sein münd­li­cher Vor­trag (er las sei­ne Re­den je­der­zeit ab) un­an­ge­nehm, un­ver­ständ­lich und über al­les die­ses manch­mal durch einen Hus­ten, öf­ters aber durch ein hoh­les bauch­schüt­tern­des La­chen un­ter­bro­chen, wo­mit er die bei­ßen­den Stel­len an­zu­kün­di­gen und zu be­glei­ten pfleg­te. Die­sen selt­sa­men Mann fand ich mild und wil­lig, als ich an­fing, mei­ne Stun­den bei ihm zu neh­men. Ich ging nun täg­lich abends um sechs Uhr zu ihm und fühl­te im­mer ein heim­li­ches Be­ha­gen, wenn sich die Klin­gel­tü­re hin­ter mir schloss und ich nun den lan­gen düs­tern Klos­ter­gang durch­zu­wan­deln hat­te. Wir sa­ßen in sei­ner Biblio­thek an ei­nem mit Wachs­tuch be­schla­ge­nen Ti­sche; ein sehr durch­le­se­ner Lu­ci­an kam nie von sei­ner Sei­te.

      Un­ge­ach­tet al­les Wohl­wol­lens ge­lang­te ich doch nicht ohne Ein­stand zur Sa­che: denn mein Leh­rer konn­te ge­wis­se spöt­ti­sche An­mer­kun­gen, und was es denn mit dem He­bräi­schen ei­gent­lich sol­le, nicht un­ter­drücken. Ich ver­schwieg ihm die Ab­sicht auf das Ju­den­deutsch und sprach von bes­se­rem Ver­ständ­nis des Grund­tex­tes. Da­rauf lä­chel­te er und mein­te, ich sol­le schon zu­frie­den sein, wenn ich nur le­sen lern­te. Dies ver­dross mich im Stil­len, und ich nahm alle mei­ne Auf­merk­sam­keit zu­sam­men, als es an die Buch­sta­ben kam. Ich fand ein Al­pha­bet, das un­ge­fähr dem grie­chi­schen zur Sei­te ging, des­sen Ge­stal­ten fass­lich, des­sen Be­nen­nun­gen mir zum größ­ten Teil nicht fremd wa­ren. Ich hat­te dies al­les sehr bald be­grif­fen und be­hal­ten und dach­te, es soll­te nun ans Le­sen ge­hen. Dass die­ses von der rech­ten zur lin­ken Zei­le ge­sch­ehe, war mir wohl be­wusst. Nun aber trat auf ein­mal ein neu­es Heer von klei­nen Buch­stäb­chen und Zei­chen her­vor, von Punk­ten und Stri­chel­chen al­ler Art, wel­che ei­gent­lich die Vo­ka­le vor­stel­len soll­ten, wor­über ich mich umso mehr ver­wun­der­te, als sich in dem grö­ßern Al­pha­be­te of­fen­bar Vo­ka­le be­fan­den und die üb­ri­gen nur un­ter frem­den Be­nen­nun­gen ver­bor­gen zu sein schie­nen. Auch ward ge­lehrt, dass die jü­di­sche Na­ti­on, so lan­ge sie ge­blüht, wirk­lich sich mit je­nen ers­ten Zei­chen be­gnügt und kei­ne an­de­re Art zu schrei­ben und zu le­sen ge­kannt habe. Ich wäre nun gar zu gern auf die­sem al­ter­tüm­li­chen, wie mir schi­en be­que­me­ren Wege ge­gan­gen; al­lein mein Al­ter er­klär­te et­was streng: man müs­se nach der Gram­ma­tik ver­fah­ren, wie sie ein­mal be­liebt und ver­fasst wor­den. Das Le­sen ohne die­se Punk­te und Stri­che sei eine sehr schwe­re Auf­ga­be und kön­ne nur von Ge­lehr­ten und den Ge­üb­tes­ten ge­leis­tet wer­den. Ich muss­te mich also be­que­men, auch die­se klei­nen Merk­zei­chen ken­nen zu ler­nen; aber die Sa­che ward mir im­mer ver­worr­ner. Nun soll­ten ei­ni­ge der ers­ten grö­ßern Ur­zei­chen an ih­rer Stel­le gar nichts gel­ten, da­mit ihre klei­nen Nach­ge­bor­nen doch ja nicht um­sonst da­ste­hen möch­ten. Dann soll­ten sie ein­mal wie­der einen lei­sen Hauch, dann einen mehr oder we­ni­ger har­ten Kehl­laut an­deu­ten, bald gar nur als Stüt­ze und Wi­der­la­ge die­nen. Zu­letzt aber, wenn man sich al­les wohl ge­merkt zu ha­ben glaub­te, wur­den ei­ni­ge der großen so­wohl als der Klei­nen Per­so­na­gen in den Ru­he­stand ver­setzt, so­dass das Auge im­mer sehr viel und die Lip­pe sehr we­nig zu tun hat­te.

      In­des­sen moch­te ihm mei­ne, die Bi­bel nach al­len Sei­ten durch­kreu­zen­de kin­di­sche Leb­haf­tig­keit doch ziem­lich ernst­haft und ei­ni­ger Nach­hil­fe wert ge­schie­nen ha­ben. Er ver­wies mich da­her nach ei­ni­ger Zeit auf das große eng­li­sche Bi­bel­werk, wel­ches in sei­ner Biblio­thek be­reit stand und in wel­chem die Aus­le­gung schwe­rer und be­denk­li­cher Stel­len auf eine ver­stän­di­ge und klu­ge Wei­se un­ter­nom­men war. Die Über­set­zung hat­te durch die großen Be­mü­hun­gen deut­scher Got­tes­ge­lehr­ten Vor­zü­ge vor dem Ori­gi­nal er­hal­ten. Die ver­schie­de­nen Mei­nun­gen wa­ren an­ge­führt und zu­letzt eine Art von Ver­mit­te­lung ver­sucht, wo­bei die Wür­de des Buchs, der Grund der Re­li­gi­on und der Men­schen­ver­stand