Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit


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Fal­le. Die Be­mü­hun­gen um die Spra­che, um den In­halt der hei­li­gen Schrif­ten selbst en­dig­ten zu­letzt da­mit, dass von je­nem schö­nen und viel ge­prie­se­nen Lan­de, sei­ner Um­ge­bung und Nach­bar­schaft, so wie von den Völ­kern und Er­eig­nis­sen, wel­che je­nen Fleck der Erde durch Jahr­tau­sen­de hin­durch ver­herr­lich­ten, eine leb­haf­te­re Vor­stel­lung in mei­ner Ein­bil­dungs­kraft her­vor­ging.

      Die­ser klei­ne Raum soll­te den Ur­sprung und das Wachs­tum des Men­schen­ge­schlechts se­hen; von dort­her soll­ten die ers­ten und ein­zigs­ten Nach­rich­ten der Ur­ge­schich­te zu uns ge­lan­gen, und ein sol­ches Lo­kal soll­te zu­gleich so ein­fach und fass­lich, als man­nig­fal­tig und zu den wun­der­sams­ten Wan­de­run­gen und An­sie­de­lun­gen ge­eig­net, vor un­se­rer Ein­bil­dungs­kraft lie­gen. Hier, zwi­schen vier be­nann­ten Flüs­sen, war aus der gan­zen zu be­woh­nen­den Erde ein klei­ner, höchst an­mu­ti­ger Raum dem ju­gend­li­chen Men­schen aus­ge­son­dert. Hier soll­te er sei­ne ers­ten Fä­hig­kei­ten ent­wi­ckeln, und hier soll­te ihn zu­gleich das Los tref­fen, das sei­ner gan­zen Nach­kom­men­schaft be­schie­den war, sei­ne Ruhe zu ver­lie­ren, in­dem er nach Er­kennt­nis streb­te. Das Pa­ra­dies war ver­scherzt; die Men­schen mehr­ten und ver­schlim­mer­ten sich; die an die Un­ar­ten die­ses Ge­schlechts noch nicht ge­wohn­ten Elo­him wur­den un­ge­dul­dig und ver­nich­te­ten es von Grund aus. Nur we­ni­ge wur­den aus der all­ge­mei­nen Über­schwem­mung ge­ret­tet; und kaum hat­te sich die­se gräu­li­che Flut ver­lau­fen, als der be­kann­te va­ter­län­di­sche Bo­den schon wie­der vor den Bli­cken der dank­ba­ren Ge­ret­te­ten lag. Zwei Flüs­se von vie­ren, Eu­phrat und Ti­gris, flos­sen noch in ih­ren Bet­ten. Der Name des ers­ten blieb; den an­de­ren schi­en sein Lauf zu be­zeich­nen. Ge­naue­re Spu­ren des Pa­ra­die­ses wä­ren nach ei­ner so großen Um­wäl­zung nicht zu for­dern ge­we­sen. Das er­neu­te Men­schen­ge­schlecht ging von hier zum zwei­ten Mal aus; es fand Ge­le­gen­heit, sich auf alle Ar­ten zu näh­ren und zu be­schäf­ti­gen, am meis­ten aber große Her­den zah­mer Ge­schöp­fe um sich zu ver­sam­meln und mit ih­nen nach al­len Sei­ten hin­zu­zie­hen.

      Die­se Le­bens­wei­se, so wie die Ver­meh­rung der Stäm­me, nö­tig­te die Völ­ker bald, sich von­ein­an­der zu ent­fer­nen. Sie konn­ten sich so­gleich nicht ent­schlie­ßen, ihre Ver­wand­ten und Freun­de für im­mer fah­ren zu las­sen; sie ka­men auf den Ge­dan­ken einen ho­hen Turm zu bau­en, der ih­nen aus wei­ter Fer­ne den Weg wie­der zu­rück­wei­sen soll­te. Aber die­ser Ver­such miss­lang wie je­nes ers­te Be­stre­ben. Sie soll­ten nicht so­gleich glück­lich und klug, zahl­reich und ei­nig sein. Die Elo­him ver­wirr­ten sie, der Bau un­ter­blieb, die Men­schen zer­streu­ten sich; die Welt war be­völ­kert, aber ent­zweit.

      Un­ser Blick, un­ser An­teil bleibt aber noch im­mer an die­se Ge­gen­den ge­hef­tet. End­lich geht aber­mals ein Stamm­va­ter von hier aus, der so glück­lich ist, sei­nen Nach­kom­men einen ent­schie­de­nen Cha­rak­ter auf­zu­prä­gen und sie da­durch für ewi­ge Zei­ten zu ei­ner großen und bei al­lem Glücks- und Orts­wech­sel zu­sam­men­hal­ten­den Na­ti­on zu ver­ei­ni­gen.

      Vom Eu­phrat aus, nicht ohne gött­li­chen Fin­ger­zeig, wan­dert Abra­ham ge­gen Wes­ten. Die Wüs­te setzt sei­nem Zug kein ent­schie­de­nes Hin­der­nis ent­ge­gen; er ge­langt an den Jor­dan, zieht über den Fluss und ver­brei­tet sich in den schö­nen mit­tä­gi­gen Ge­gen­den von Pa­läs­ti­na. Die­ses Land war schon frü­her in Be­sitz ge­nom­men und ziem­lich be­wohnt. Ber­ge, nicht all­zu hoch, aber stei­nig und un­frucht­bar, wa­ren von vie­len be­wäs­ser­ten, dem An­bau güns­ti­gen Tä­lern durch­schnit­ten. Städ­te, Fle­cken, ein­zel­ne An­sie­de­lun­gen la­gen zer­streut auf der Flä­che, auf Ab­hän­gen des großen Tals, des­sen Was­ser sich im Jor­dan sam­meln. So be­wohnt, so be­baut war das Land, aber die Welt noch groß ge­nug und die Men­schen nicht auf den Grad sorg­fäl­tig, be­dürf­nis­voll und tä­tig, um sich gleich al­ler ih­rer Um­ge­bun­gen zu be­mäch­ti­gen. Zwi­schen je­nen Be­sit­zun­gen er­streck­ten sich große Räu­me, in wel­chen wei­den­de Züge sich be­quem hin und her be­we­gen konn­ten. In sol­chen Räu­men hält sich Abra­ham auf, sein Bru­der Lot ist bei ihm; aber sie kön­nen nicht lan­ge an sol­chen Or­ten ver­blei­ben. Eben jene Ver­fas­sung des Lan­des, des­sen Be­völ­ke­rung bald zu- bald ab­nimmt und des­sen Er­zeug­nis­se sich nie­mals mit dem Be­dürf­nis im Gleich­ge­wicht er­hal­ten, bringt un­ver­se­hens eine Hun­gers­not her­vor, und der Ein­ge­wan­der­te lei­det mit dem Ein­hei­mi­schen, dem er durch sei­ne zu­fäl­li­ge Ge­gen­wart die eig­ne Nah­rung ver­küm­mert hat. Die bei­den chal­däi­schen Brü­der zie­hen nach Ägyp­ten, und so ist uns der Schau­platz vor­ge­zeich­net, auf dem ei­ni­ge tau­send Jah­re die be­deu­tends­ten Be­ge­ben­hei­ten der Welt vor­ge­hen soll­ten. Vom Ti­gris zum Eu­phrat, vom Eu­phrat zum Nil se­hen wir die Erde be­völ­kert und in die­sem Rau­me einen be­kann­ten, den Göt­tern ge­lieb­ten, uns schon wert ge­wor­de­nen Mann mit Her­den und Gü­tern hin und wi­der zie­hen und sie in kur­z­er Zeit aufs reich­lichs­te ver­meh­ren. Die Brü­der kom­men zu­rück; al­lein ge­wit­zigt durch die aus­ge­stan­de­ne Not, fas­sen sie den Ent­schluss, sich von­ein­an­der zu tren­nen. Bei­de ver­wei­len zwar im mit­tä­gi­gen Kanaan; aber in­dem Abra­ham zu He­bron ge­gen dem Hain Mam­re bleibt, zieht sich Lot nach dem Tale Sid­dim, das, wenn un­se­re Ein­bil­dungs­kraft kühn ge­nug ist, dem Jor­dan einen un­ter­ir­di­schen Aus­fluss zu ge­ben, um an der Stel­le des ge­gen­wär­ti­gen As­phalt­sees einen trock­nen Bo­den zu ge­win­nen, uns als ein zwei­tes Pa­ra­dies er­schei­nen kann und muss; umso mehr, weil die Be­woh­ner und An­woh­ner des­sel­ben, als Weich­lin­ge und Frev­ler be­rüch­tigt, uns da­durch auf ein be­que­mes und üp­pi­ges Le­ben schlie­ßen las­sen. Lot wohnt un­ter ih­nen, je­doch ab­ge­son­dert.

      Aber He­bron und der Hain Mam­re er­schei­nen uns als die wich­ti­ge Stät­te, wo der Herr mit Abra­ham spricht und ihm al­les Land ver­heißt, so weit sein Blick nur in vier Welt­ge­gen­den rei­chen mag. Aus die­sen stil­len Be­zir­ken, von die­sen Hir­ten­völ­kern, die mit den Himm­li­schen um­ge­hen dür­fen, sie als Gäs­te be­wir­ten und man­che Zwie­spra­che mir ih­nen hal­ten, wer­den wir ge­nö­tigt, den Blick aber­mals ge­gen Os­ten zu wen­den und an die Ver­fas­sung der Ne­ben­welt zu den­ken, die im gan­zen wohl der ein­zel­nen Ver­fas­sung von Kanaan glei­chen moch­te.

      Fa­mi­li­en hal­ten zu­sam­men; sie ver­ei­ni­gen sich, und die Le­bens­art der Stäm­me wird durch das Lo­kal be­stimmt, das sie sich zu­ge­eig­net ha­ben oder zu­eig­nen. Auf den Ge­bir­gen, die ihr Was­ser nach dem Ti­gris hin­un­ter­sen­den, fin­den wir krie­ge­ri­sche Völ­ker, die schon sehr früh auf jene Wel­tero­be­rer und Welt­be­herr­scher hin­deu­ten und in ei­nem für jene Zei­ten un­ge­heu­ren Feld­zug uns ein Vor­spiel künf­ti­ger Groß­ta­ten ge­ben. Ke­dor Lao­mor, Kö­nig von Elam, wirkt schon mäch­tig auf Ver­bün­de­te. Er herrscht lan­ge Zeit: denn schon zwölf Jah­re vor Abra­hams An­kunft in Kanaan hat­te er bis an den Jor­dan die Völ­ker zins­bar ge­macht. Sie wa­ren end­lich ab­ge­fal­len, und die Ver­bün­de­ten rüs­ten sich zum Krie­ge. Wir fin­den sie un­ver­mu­tet auf ei­nem Wege, auf dem wahr­schein­lich auch Abra­ham nach Kanaan ge­lang­te. Die Völ­ker an der lin­ken und un­tern Sei­te des Jor­dan wer­den be­zwun­gen, Ke­dor Lao­mor rich­tet sei­nen Zug süd­wärts nach den Völ­kern der Wüs­te, so­dann, sich nord­wärts wen­dend, schlägt er die Ama­le­ki­ter, und als er auch die Amo­ri­ter über­wun­den, ge­langt er nach Kanaan,