Robert Macfarlane

Berge im Kopf


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Vorstellung von den Bergen wir haben. Bevor er Old Mountain Beauty veröffentlichte, hatte Ruskin Jahre damit verbracht, die niedrigeren Wege der Alpen abzuwandern. Er fertigte dabei Skizzen an, malte, beobachtete und meditierte. Er zog damals die Schlussfolgerung, dass die willkürlich erscheinende Gezacktheit der Berggrate eine Illusion sei. Wenn man die Berge mit der gebotenen Sorgfalt und Geduld betrachtete, dann konnte man erkennen, dass die Grundform ihres Aufbaus in der Tat die Krümmung war und nicht der Winkel, wie man bei oberflächlicher Beobachtung meinen konnte. Berge waren von Natur aus gekrümmt, und Gebirgsketten geformt und angeordnet wie Wellen. »Die stille Welle der Blauen Berge« waren Wellen aus Gestein, keine Wellen aus Wasser.

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      Mer de Glace mit den Grandes Jorasses, Blick nach Südsüdosten

      Laut Ruskin neigten Bergketten wie hydraulische Wellen dazu, sich zu bewegen. Sie waren einst von kolossalen Kräften aufgerichtet worden und wurden noch immer von ihnen bewegt. Dass man sich die Bewegung der Berge nur vorstellen, sie aber nicht beobachten konnte, war, wie James Hutton festgestellt hatte, nur eine Folge der kurzen Lebensdauer des Menschen. Berge waren nicht statisch, sondern flüssig: Steine fielen herab, und Regenwasser floss über ihre Flanken hinab. Für Ruskin war diese ewige Bewegung der Berge der Anfang und das Ende jeder Naturlandschaft. Er schrieb:

      Diese trostlosen und bedrohlichen Ketten schwarzer Berge, zu denen die Menschen in allen Zeitaltern der Welt hoch geschaut haben mit Abneigung oder Entsetzen und vor denen sie zurückschreckten, als wären sie verfolgt vom ewigen Bild des Todes, sind in Wirklichkeit viel größere und wohltätigere Quellen des Lebens und des Glücks als die strahlende Fruchtbarkeit der Ebene […].

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      Ruskins Intuition, dass sich Berge bewegten, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts unerwartet nachgewiesen, als sich der letzte signifikante Wandel der westlichen Vorstellungen von der Vergangenheit der Berge vollzog. Im Januar 1912 stand bei einem unter Geowissenschaftlern mittlerweile legendären Vorfall ein Deutscher namens Alfred Wegener (1880–1930) vor einem Auditorium bedeutender Geologen in Frankfurt auf und erzählte ihnen, dass sich die Kontinente bewegten. Er erklärte, dass insbesondere die Kontinente, die in erster Linie aus granitartigen Gesteinen bestehen, auf dem dichteren Basalt des Ozeanbodens schwimmen würden wie Ölflecken auf dem Wasser. Wegener informierte seine zunehmend ungläubigen Zuhörer darüber, dass 300 Millionen Jahre zuvor die gesamten Landmassen der Welt Teil eines einzigen Superkontinents gewesen wären, eines Urkontinents, den er Pangaea nannte, was »alles Land« bedeutet. Durch die Spaltkraft verschiedener geologischer Kräfte sei Pangaea in viele Teile auseinandergerissen worden. Diese Teile wären später auseinandergedriftet und über den Basalt in ihre gegenwärtigen Positionen gerutscht. Wegener argumentierte, dass die Gebirge der Welt nicht durch die Abkühlung und dadurch bedingte Faltenbildung der Erdkruste entstanden sind – eine Theorie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in Mode gekommen war –, sondern durch die Kollision zweier Kontinente, die sich ineinander schoben, was einen Buckel rund um die Knautschzone zur Folge hatte. So war der der tief liegende Ural, der das europäische Russland von Sibirien trennt, laut Wegener das Produkt einer früheren Kollision zwischen zwei beweglichen Kontinenten, die vor so langer Zeit geschah, dass die Folgen der Gebirgsbildung in der Knautschzone zum Großteil durch Erosion bereits wieder abgeflacht wurde.

      Sehen Sie sich zum Beweis den Globus an, sagte Wegener. Schauen Sie sich die Verteilung der Kontinente an. Wenn Sie diese ein wenig bewegen, dann passen sie ineinander wie die Teile eines Puzzles. Schieben Sie Südamerika auf Afrika zu, dann schließt dessen östliche Küste perfekt an die Umrisse des westlichen Afrikas an. Und wenn Sie Zentralamerika um die Elfenbeinküste legen und Nordamerika an den oberen Teil Afrikas, dann haben Sie schon den halben Superkontinent. Er erklärte, dass dieser Trick auch bei Indiens westlicher Küstenregion funktioniert, die sich eng ans spitze Horn von Afrika schmiegt, genauso wie Madagaskar perfekt zurückrutscht ins einst abgerissene Stück an der Südostküste von Afrika.

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      Alfred Wegeners Rekonstruktionen der Erdkarte nach der Verschiebungstheorie für drei Zeiten

      Wegener hatte noch besseres Beweismaterial, um seine Behauptung zu stützen. Er hatte jahrelang in den umfangreichen Fossilienarchiven der Universität Marburg gearbeitet und dabei festgestellt, dass genau an jenen Zonen in den Felsschichten identische Fossilienarten gefunden worden waren, von denen er annahm, dass sie einst zusammengehört hatten: Beispielsweise stimmten an der Westküste Afrikas und der Ostküste Brasiliens die Kohleablagerungen und die Fossilien überein. »Es ist so, wie wenn wir die zerrissenen Teile einer Zeitung zusammensetzen, indem wir ihre Ecken aneinanderfügen und dann prüfen, ob die Zeilenübergänge stimmen«, schrieb er. »Wenn sie das tun, dann bleibt nur der Schluss, dass die Teile tatsächlich so zusammengehörten.«

      Wegener war nicht der Erste, der darauf hinwies, dass die Kontinente miteinander verbunden waren. Im 17. Jahrhundert hatte sich der Kartograf Ortelius schon Notizen über das Puzzlespiel der Kontinente gemacht und angenommen, dass sie einmal miteinander verbunden gewesen waren, durch heftige Überflutungen und Erdbeben, dann aber auseinandergebrochen wären. Man glaubte ihm nicht. Auch der unendlich scharfsinnige Francis Bacon erwähnte 1620 in seinem Novum Organum, dass die Kontinente zusammenpassen würden, »wie wenn sie aus der gleichen Form ausgeschnitten worden wären«, scheint aber nicht weiter darüber nachgedacht zu haben. Und 1858 schrieb ein Franko-Amerikaner namens Antonio Snider-Pellegrini eine ganze Abhandlung, Creation and its Mysteries Revealed, um aufzuzeigen wie die Kontinente einst zusammengefügt waren.

      In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es jedoch kein Umfeld für einen so radikalen Wandel der geologischen Theorie, schlicht keine andere wissenschaftliche Erkenntnis, die zu dieser Theorie passte. Ein Grundpfeiler der Geologie des 19. Jahrhunderts waren nämlich die enormen Landbrücken, von denen man glaubte, dass sie einst die Kontinente der Welt miteinander verbunden haben, dann aber ins Meer gestürzt wären. Diese Landbrücken erklärten die Existenz derselben Spezies auf verschiedenen Landmassen, was viel plausibler erschien als Kontinente, die sich bewegten.

      Daher argumentierte Wegener 1912 gegen den Kern der damals vorherrschenden Weisheit. Wenn seine Theorie stimmte, dann würde er damit viele der grundlegenden Annahmen der Geologie des 19. Jahrhunderts für nichtig erklären. Noch schlimmer war, dass Wegener ein fachfremder Eindringling war, der von seinem Hauptforschungsgebiet, der Meteorologie, in die Jagdgründe der Geologen gewechselt hatte. Wegener war ursprünglich ein Pionier der Wetterballon-Forschung und ein Grönlandspezialist, der mehrere erfolgreiche und eine fatale Forschungs-Expedition in die Arktis geleitet hatte. Wie konnte ein Wettermann annehmen, er könne mit einem einzigen Streich die komplexen und wunderbaren Gebäude der Geologie des 19. Jahrhunderts zum Einsturz bringen?

      Wie bei Burnet viele Jahre zuvor formierte sich gegen Wegeners Theorie sofort eine wortgewaltige Opposition: »Was für ein verdammter Blödsinn«, formulierte der Präsident der Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft eloquent. Aber Wegener war ein stoischer Visionär und blieb unbewegt angesichts dieser frühen Feindseligkeiten. Im Jahre 1915 veröffentlichte er Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, eine sorgfältige Erklärung seiner Theorie und damit gewissermaßen eine ebenso apokalyptische Umdeutung der Vorstellungen der Erdgeschichte wie zuvor Burnets The Sacred Theory of the Earth oder Huttons The Theory of the Earth.

      Zwischen 1915 und 1929 überarbeitete Wegener seine Entstehung der Kontinente und Ozeane dreimal, um neue Erkenntnisse der Geologie mit einzubeziehen. Vom geologischen Establishment wurde er nach wie vor ignoriert.

      Im Jahre 1930 leitete er eine weitere Grönland-Expedition. Drei Tage nach seinem 50. Geburtstag gerieten er und sein Team in einen Schneesturm, in dem die Temperaturen bis auf minus 50 Grad Celsius fielen. Wegener wurde im Whiteout von seinen Kameraden getrennt und erfror einsam in der arktischen Wildnis. Seine Kollegen fanden seinen Körper als der Sturm nachließ. Sie bestatteten ihn in einem Mausoleum aus Eisblöcken, auf dessen Spitze sie ein sechs Meter hohes Eisenkreuz setzten. Innerhalb von einem Jahr war das Gebilde samt Inhalt im Inneren des