konnte und in der Lage war sich vorzustellen, wie diese Biester, die einst über die Erde zogen, wohl ausgesehen hatten. Er verband überdimensionale Skelettteile durch Draht miteinander, bettete Knochenbestandteile in Zement ein und entwickelte mithilfe von Illustratoren die ersten Darstellungen von Dinosauriern. Auf viele wirkte Cuviers Arbeit mehr wie die eines Thaumaturgen, eines Wundertäters, denn als Arbeit eines Taxidermisten, eines Tierpräparators. Er hauchte nicht nur diesen Kreaturen Leben ein, sondern ganzen Epochen. – »Ist Cuvier nicht der größte Poet unseres Jahrhunderts?«, schrieb Balzac später verzückt über ihn.
Unser unsterblicher Naturalist hat ganze Welten aus gebleichten Knochen geschaffen. Er nimmt ein Stück Gips und sagt zu uns: »Seht!« Und plötzlich verwandelt sich der Stein in ein Tier; Totes wird lebendig und eine andere Welt breitet sich vor unseren Augen aus.
Angeregt durch die neue, weit verbreitete Leidenschaft für die Erde des Altertums, entwickelten sich das Sammeln von Fossilien und die Paläontologie rasch zu einer europäischen Modeerscheinung des frühen 19. Jahrhunderts. Es schien, als ob nun täglich eine neue tote Spezies entdeckt würde. Es gab Fossiliensucher, eine aktive Untergruppe von Geologen, die mit Rucksack, Hammer und weichen Bürsten überall dorthin gingen, wo Fels frei lag: an die Küste – wie etwa zu den reichhaltigen Lagerstätten des Juras am Lyme Regis, aus denen die renommierte Fossiliensucherin Mary Anning einen Ichthyosaurus und Plesiosaurus freilegte – und in Bäche, Steinbrüche und Flussbetten sowie in die Berge. Sportlich ambitionierte Fossiliensucher kletterten an Klippen über die verschiedenen Schichten und Fältchen des Gesteins hinweg und beschrieben, wie sie sich dabei fühlten, wenn sie sich so schnell durch die Zeiten bewegten und mit einer einzigen Bewegung eine neue Epoche erreichten.
Viele fossile Lagerstätten wurden von den Sammlern geplündert – die viktorianische Vorliebe, Spezies auszurotten, wurde so fast auf bereits ausgestorbene Arten übertragen. Reiche Amateure füllten ganze Räume mit ihren Fundstücken und investierten für die kleineren Exponate in spezielle Fossilienschränke: hüfthohe Schränkchen mit Reihen von ausziehbaren, verglasten Schubladen, die unter der Glasscheibe in Dutzende von streichholzschachtelgroßen Fächern unterteilt waren. In jedem dieser kleinen und sorgfältig beschriebenen Fächer lag ein Fossil: der Zahn eines Haies etwa oder der zarte Abdruck eines Farns auf einem Schieferplättchen. Kleine Friedhöfe dieser Art waren damals in Mode und standen in vielen wohlhabenden Häusern. Und die Leute kamen, um durch die Scheiben auf diese Relikte vergangener Welten zu schauen, dabei über ihre Sterblichkeit nachzudenken und über das unsägliche Alter der Erde nachzusinnen.
Diese aufflammende Begeisterung für Fossilien ist für unsere Untersuchung in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Zum einen, weil sie die Faszination der Menschen des 19. Jahrhunderts für die vergangenen Erdzeitalter nur noch verstärkte. Fossilien seien »uralte Denkmäler der Natur, […] geschrieben in einer lebendigen Sprache«, hatte Charles Lyell völlig zu Recht in seinen Principles festgestellt, und die Paläontologie lehrte die Menschen genau wie die Geologie, wie man eine Landschaft als Geschichtsbuch liest und was sie über die Vergangenheit erzählt. Die Geologie war in der Tat während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Populärwissenschaft schlechthin. 1861 stellte die Königin von England sogar einen königlichen Mineralogen am Hof an. Geologischer Tourismus wurde zu einer wachsenden Einkommensquelle. Jene, die um 1860 vorhatten, sich auf eine geologische Reise zu begeben, konnten aus einer ganzen Reihe von Seminaren auswählen, die sie in Gesteinskunde unterrichten würde. Denjenigen, die eine persönliche Anleitung bevorzugten, bot Professor William Turl in der Green Street in London gemäß seiner Zeitungsannonce eine »individuelle Schulung für Touristen, sodass sie genügend Wissen erwerben können, um alle normalen Bestandteile der kristallinen und vulkanischen Gesteine identifizieren zu können, auf die man in den europäischen Bergen stößt«.
Die zweite wichtige Bedeutung dieser Begeisterung für Fossilien war, dass er Tausende dazu ermutigte, hinaus in die Natur zu gehen und somit eine aktive Annäherung an Felsen und Gestein förderte. In der Tat lag der Ursprung der westlichen Geologie in den Bergen und das Bergsteigen hing stets mit der Geologie zusammen. Viele der ersten Pioniere unter den Geologen wie Horace Bénédicte de Saussure oder der Schotte James David Forbes waren zugleich Pioniere unter den Bergsteigern.** Saussures vierbändiges Werk Voyages dans les Alpes (1779–1796) war sowohl ein grundlegendes Geologiebuch als auch eine der ersten Reisebeschreibungen der Wildnis. Als 1807 die Geological Society of London gegründet wurde, waren sich deren Mitglieder durchaus darüber im Klaren, dass die Auswirkungen ihrer Wissenschaft gegen die religiösen Überzeugungen der damaligen Zeit antraten. Sie wollten weder für komische Käuze noch für Bilderstürmer gehalten werden und stilisierten sich schließlich zu »Rittern des Hammers«, zu ritterlichen Männern der Wissenschaft, die auf der Suche nach Wissen in die Wildnis aufbrechen. Robert Bakewell bemerkte in seiner Introduction to Geology (1813), es sei eine »zusätzliche Empfehlung für das Studium der Geologie, dass deren Jünger dabei alpine Regionen erforschen«. Wie als Beweis dafür zeigt die erste Ausgabe der Introduction auf der zweiten Buchseite ein Bild von Bakewell, wie er glücklich zwischen den Basaltsäulen auf dem Gipfel des Cadair Idris in Wales sitzt. Die Geologie brachte den Menschen des frühen 19. Jahrhunderts nicht nur die Beschäftigung mit alten Knochen und Steinen, sondern auch eine gesundheitsfördernde Betätigung im Freien und eine romantische Sensibilität. Doch damit nicht genug, wurde die Geologie von vielen als eine Form von Geisterbeschwörung verstanden, die eine magische Reise in die Vergangenheit ermöglichte, wo man, wie es ein »Ritter des Hammers« einmal ausdrückte, auf Wunder stieß, die phänomenaler waren, als Erfundenes es je sein kann. Nach den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts, als sich die Grundzüge der klassischen Geologie in Europa und Amerika verbreiteten, wurde immer mehr Menschen bewusst, dass die Berge einen Ort darstellten, an dem man sich in den Archiven der Erde umsehen konnte – im ›Großen Buch der Steine‹, wie man es damals nannte.
Ich hatte als Junge zwei Bücher über Steine. Das eine war ein schmales Taschenbuch, ein Führer über Gesteinsarten und Kristalle, mit Beschreibungen und Fotos von Hunderten verschiedener Steine, deren klingende Namen ich vor mich hinmurmelte, bis ich sie gelernt hatte: roter und grüner Serpentin, Malachit, Basalt, Flurspat, Obsidian, Rauchquarz, Amethyst. Stundenlang suchte ich die schottische Küste ab. Nicht etwa, um dort Überbleibsel der Flut aufzuspüren – etwa eine einzelne Flip-Flop-Sandale von einem vorbeifahrenden Passagierschiff, den neonfarbenen Schwimmkörper eines Treibnetzes oder die vulkanisierte Leiche einer Qualle, obwohl das zweifellos wunderbare Fundstücke waren. Ich war dort wegen der Steine, mit denen die Strände übersät waren. Während ich mit dem Führer in der Hand knirschenden Schrittes über dieses geologische Potpourri ging, stürzte ich mich auf einen Stein nach dem anderen, sammelte sie und stopfte sie in meine Schultertragetasche aus Leinen, wo sie mit einem dumpfen oder quietschenden Geräusch aneinanderstießen. Das war wie freie Auswahl im feinsten Süßigkeitengeschäft der Welt: Ich konnte nie ganz glauben, dass ich die Steine mitnehmen durfte. Ich schleppte sie heim, legte sie in Behälter auf dem Fenstersims und sorgte mit Wasser dafür, dass sie glänzten und angenehm glatt waren.
Ich liebte die Farben der Steine und wie sie sich anfühlten – die großen flachen, die so schön warm waren, in die Hand passten wie ein Diskus und blaue oder rote Ringe hatten, die sich vom rauchgrauen Hintergrund abhoben. Oder die schweren Graniteier, die über Epochen hinweg von der Massage des Ozeans glatt geschmirgelt worden waren. Oder die Feuersteine, die aussahen wie Edelsteine, so transparent waren wie dunkles Bienenwachs und in die man so tief hineinschauen konnte wie in ein Hologramm. Aber was mich wirklich faszinierte, während ich mehr über Geologie las, war die Erkenntnis, dass jeder Stein seine eigene Geschichte hat, eine Biografie, die über mehrere Zeitalter zurückreicht. Ich war auf seltsame Weise stolz darauf, dass sich mein Leben mit jedem dieser unfassbar alten Objekte gekreuzt hatte, und dass sie wegen mir nun auf dem Fenstersims lagen und nicht mehr am Strand. Gelegentlich nahm ich zwei Steine und schlug, den einen als Hammer nutzend, auf den anderen damit ein. Ein Aufschlag war zu hören, dann entstand ein Riss, ein orangefarbener Funken sprühte, und es roch nach zerborstenem Fels. Einen kurzen Moment lang war ich erfreut darüber, dass ich das geschafft hatte, was den geologischen Kräften in Billionen