Robert Macfarlane

Berge im Kopf


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Playfair, war ihm, als »würde der Verstand von Schwindel ergriffen, weil er so tief in den Abgrund der Zeit hinabsah«.

      Zwischen 1785 und 1799 erschien Huttons Opus Magnum Theory of the Earth in drei Bänden: ein Destillat seines jahrzehntelangen Nachsinnens über die Entstehung der Landschaft. Darin stellt er die These auf, dass die Erde, so wie wir sie kennen, nur eine Momentaufnahme in einer Reihe von Zyklen unbekannter Zahl ist. Die offensichtliche Dauerhaftigkeit von Bergen und Küstenlinien sei faktisch eine Illusion, entstanden als Folge unserer winzig kleinen Lebensspanne. Wenn wir Äonen von Jahren leben würden, könnten wir nicht nur Zeugen beim Untergang der Zivilisationen werden, sondern auch bei der völligen Umgestaltung der Erdoberfläche. Wir würden sehen, wie Berge durch Erosion vollkommen abgetragen werden und wie sich unter dem Meeresspiegel neue Landmassen bilden. Erodiertes Geröll der Kontinente, das als Sedimentschicht auf dem Meeresgrund abgelagert wurde, würde durch die Hitze des Erdkerns in Gestein umgewandelt und Jahrmillionen später emporgehoben werden, um neue Kontinente und neue Gebirgsmassive zu bilden. Das war der Grund, so Hutton, dass man im Gestein auf Berggipfeln versteinerte Muscheln finden konnte. Nicht etwa, weil sie von der Sintflut dorthin gespült worden wären, sondern weil sie durch die unerbittlichen, langwierigen Prozesse der Erde vom Meeresboden bis zur Bergspitze hochgehoben wurden.

      Hutton grenzte das Alter der Erde nicht ein. Seiner Vision zufolge reichte die Erdgeschichte unendlich weit in die Vergangenheit zurück und erstreckte sich unendlich weit in die Zukunft. Der Schlusssatz seines Buches sollte durch die Jahrhunderte hallen: »Das Ergebnis unserer gegenwärtigen Untersuchungen ist, dass wir keinen Hinweis auf einen Anfang haben – und keine Aussicht auf ein Ende.« Diese undefinierte Ausdehnung der Erdgeschichte war der wichtigste Beitrag der Geologie auf die Vorstellungen der Allgemeinheit.

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      Welchen Einfluss hatte diese geologische Revolution auf das Bild, das man sich von den Bergen machte? Nachdem die Geologen gezeigt hatten, dass die Erde Millionen von Jahren alt ist und immensen Veränderungen unterworfen war und noch immer ist, konnten die Berge nie mehr so betrachtet werden wie zuvor. Plötzlich wurde diesen Sinnbildern der Beständigkeit eine aufregende und verblüffende Wandlungsfähigkeit zugesprochen. Die Berge, die so beständig und zeitlos wirkten, hatten sich in Wirklichkeit über unzählige Jahrtausende hinweg gebildet, verformt und wieder neu gebildet. Ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild war nur eine Phase im unendlichen Kreislauf von Erosion und Gebirgsbildung, der die Gestalt der Erde prägte.

      Eine neue Generation von Bergsteigern wurde von den gespenstischen Landschaften angezogen, die sich bei der Untersuchung durch die Geologen plötzlich aufgetan hatten. »Was ich so klar wie nie zuvor erkannte«, schrieb 1780 Horace-Bénédicte de Saussure, der Genfer Naturwissenschaftler, »das war das Grundgerüst all dieser großen Berge, ihre Beziehung zueinander und deren wahre Struktur, die ich schon früher so gerne verstanden hätte.«

      Die Geologie schuf einen Grund und eine Entschuldigung dafür, in die Berge zu reisen, nämlich die wissenschaftliche Untersuchung.

      Ein Gefühl der Neugier, welches das natürliche Interesse weit übersteigt, bringt Reisende aus allen Teilen Europas dazu, den Montblanc aufzusuchen, den höchsten Punkt der Alten Welt, um dort die Gletscher der Umgebung zu erforschen,

      stellte ein englischer Journalist 1801 fest.

      Diese Orte haben seit Kurzem ein neues Maß an Interesse hervorgerufen – Geologen, Mineralogen und reine Amateure begeben sich mit Begeisterung dorthin. Und sogar Frauen werden durch das Vergnügen beim Anblick von Dingen, die völlig neu für sie sind, weitgehend für die Anstrengungen der Reise entschädigt.

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      »Strata Types«, das Frontispiz zu Humphry Davys Elements of Agricultural Chemistry (1813), zeigt die verschiedenen Gesteinsschichten, die die Geologie sichtbar gemacht hatte.

      Die Berge anzuschauen bedeutete nun auch, in sie hineinzusehen und sich ihre Vergangenheit vorzustellen. Der englische Wissenschaftler Humphry Davy brachte es 1805 auf den Punkt:

      Für denjenigen, der geologische Untersuchungen anstellt, bietet jede Bergkette erstaunliche Denkmäler der großen Veränderungen, denen der Globus unterworfen war. Die erhabensten Vermutungen werden geweckt, die Gegenwart bleibt unbeachtet, vergangene Zeitalter rücken in den Vordergrund. Und der Verstand verliert sich in Bewunderung angesichts der Gestaltung dieser großen Kraft, die jene Ordnung herbeiführte, die auf den ersten Blick nur ein wildes Durcheinander zu sein scheint.

      Hier kam also eine andere Form von Schwindelgefühl zu jener bekannteren Form hinzu, die einen an einem steilen Berg überkommen kann: die, welche durch eine lange Vergangenheit hervorgerufen wird. Wie Burnet schon im Jahrhundert zuvor angedeutet hatte, war das Bergsteigen zu einer Erfahrung geworden, bei der man sich nicht nur im Raum nach oben bewegte, sondern auch rückwärts durch die Zeit.

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      James Hutton mag der Vater der Geologie gewesen sein, aber er war keinesfalls deren elegantester Repräsentant. Abgesehen von seinen klangvollen Schlusssätzen war Huttons Theorie in einer Prosa verfasst, die so eintönig und undurchschaubar war wie der Old Red Sandstone an der schottischen Küste, auf den er so stolz war. Es würde noch dreißig Jahre dauern und einen anderen legendären Geologen erfordern, bis die raschen Fortschritte der Geologie und die atemberaubenden Berichte darüber richtig populär werden und noch mehr Menschen in die Berge locken sollten. Noch mehr als Burnet oder sogar Hutton war der schottische Geologe Charles Lyell verantwortlich dafür, dass sich die sprachlichen Begriffe und die Vorstellungen der Geologie im 19. Jahrhundert verbreiteten.

      Charles Lyell war Rechtsanwalt, bevor er zum Geologen wurde, und seine forensische Ausbildung hatte ihm zu einem Schreibstil von extremer Klarheit und Eleganz verholfen. Zwischen 1830 und 1833 veröffentlichte er die drei Bände von The Principles of Geology: an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Causes Now in Operation, ein Werk, das sorgfältig und kurzweilig die Argumente der Aktualisten darlegte, dass das Studium der Gegenwart der Schlüssel zur Vergangenheit sei. Die Principles wurden rasch zur Pflichtlektüre des Bildungsbürgertums seiner Zeit und vielfältig übersetzt. Bis 1872 wurden elf überarbeitete Ausgaben veröffentlicht.

      Lyells Brillanz lag in erster Linie in seiner Zuordnung von Details. Genauso wie Charles Darwin es in seinem 1859 erschienenen Werk Über den Ursprung der Arten durch natürliche Selektion getan hatte, konnte Lyell seine Zuhörer mit einer Kombination aus unwiderlegbaren Fakten – diesbezüglich ähnelte seine Schrift dem Prozess, den sie beschrieb – und erläuternden Anekdoten für sich gewinnen. Eine große Anziehung ging auch davon aus, dass das Wissen, das Lyell in groben Zügen skizzierte, etwas Demokratisches hatte: Man benötigte keine spezielle Ausrüstung oder lange Schulung, um die Geschichte der Erde entziffern zu können, sondern nur ein Paar scharfe Augen, einige grundlegende Kenntnisse über die Prinzipien des Aktualismus sowie genügend Neugier und Mut, um über die Kante in den Abgrund der Zeit hinabzuschauen. Jeder, der diese minimalen Qualifikationen besaß, konnte die aufregendste Vorführung der Erde besuchen: die ihrer Vergangenheit.

      Um uns vor Augen zu führen, wie diese neue Art der Betrachtung der Berge in der Praxis aussieht, gehen wir zurück ins Jahr 1835 und in die Stadt Valparaiso, die sich entlang der pazifischen Küste von Chile erstreckt. Der Name der Stadt bedeutet »Paradiestal« und es hätte kaum ein Name gefunden werden können, der schlechter gepasst hätte als dieser. Zum einen liegt die Stadt nicht in einem Tal, sondern auf einem schmalen, annähernd horizontalen Landstrich zwischen den Wellenkämmen des Pazifiks und dem steilen roten Felsmassiv hinter der Stadt. Und paradiesisch ist sie ganz bestimmt nicht. Der ablandige Wind, der hier ständig über die Oberfläche fegt, das steile Gelände und der salzhaltige Boden sorgen dafür, dass es keine nennenswerte Vegetation gibt. Abgesehen von den Menschen, die sich in kleinen Ansammlungen von eng aneinandergeschmiegten, niedrigen weiß-getünchten Häusern mit roten Dachziegeln in den Flussläufen und Schluchten angesiedelt haben, findet man hier wenig Leben.

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