Hansjörg Anderegg

Das Komplott der Senatoren


Скачать книгу

Er tastete nach der Taschenlampe und rappelte sich mühsam auf. Der Lichtstrahl fiel auf die leere Stelle, die ihm vor seinem Unfall aufgefallen war. Dort hatte seine Ware gelagert, und dorthin drängte es ihn jetzt wieder, auch wenn er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Schwer atmend schleppte er sich zwischen den Stapeln hindurch, bis er schließlich jenen Bereich überblickte. Langsam wanderte der Lichtstrahl über die verbliebene Ladung, ohne dass ihm etwas auffiel. Enttäuscht wollte er umkehren, als das Licht auf eine Palette fiel, die er übersehen hatte, obwohl sie gleich neben ihm stand. Wie vom Blitz getroffen zuckte er zurück. Er richtete den zitternden Lichtkegel nochmals auf die Palette. DT stand in großen Lettern auf der Verpackung. Er hatte seine Pumpen gefunden.

      Die Freude über die Entdeckung währte nicht lange. Er spürte, wie er von Minute zu Minute schwächer und schläfriger wurde. Ein böser Verdacht keimte in ihm auf: Kohlenmonoxid, CO. Die Atmosphäre hier unten könnte mit CO vergiftet sein. Er musste an die frische Luft, sonst war er verloren. Vielleicht hatte ihm der Weckruf des Handys das Leben gerettet. Mit eisernem Willen zog er sich die senkrechte Leiter hinauf zur Einstiegsluke. Die Kraft seiner Arme reichte nicht mehr, um den Deckel anzuheben. Erst als er sich mit den Schultern dagegen stemmte, konnte er ihn ein Stück weit anheben. Kühle Seeluft füllte seine Lungen, und er fühlte sich augenblicklich besser. Lange hing er in verkrampfter Haltung an der Leiter, den schweren Metalldeckel auf dem Rücken, die Nase im rettenden Luftstrom. Sein Kopf wurde klarer, die Schläfrigkeit wich allmählich und seine Muskeln begannen wieder normal zu funktionieren. Er drückte den Deckel ganz auf, kroch aus der tödlichen Falle, legte sich flach aufs Deck, schloss die Augen und horchte. Hie und da ächzte Metall, unterbrach der Schlag eines Taus an den Mast das gleichmäßige Brummen der Motoren, das rhythmische Rauschen der Wellen. Der Boden vibrierte leise und der Fahrtwind pfiff um die Luken, aber Stimmen waren keine zu hören.

      Er schlug die Augen auf und erhob sich. Vorsichtig, jeden Sichtschutz nutzend, schlich er zum Deckhaus. Hier an der Wand war er von der Brücke aus nicht zu sehen. Als er an die Reling trat, trafen ihn die ersten Sonnenstrahlen. Die Spassky fuhr mit voller Kraft genau in die Gegenrichtung, nach Westen. Wie er befürchtet hatte, mussten sie sich mitten im Arabischen Meer befinden, auf Kurs zum Golf von Aden.

      Was sollte er tun? Je länger er darüber nachdachte, desto aussichtsloser erschien ihm seine Lage. Blinder Passagier auf offener See, unterwegs in eine Gegend, die er nur dem Namen nach kannte, auf einem Frachter mit Spitzbuben, die seine Ware gestohlen hatten. Saboteure waren sie, und er wagte sich nicht auszumalen, wozu sie sonst noch fähig waren. Wie lange würde die Überfahrt dauern? Welcher Hafen war das nächste Ziel der Spassky? Seine Geografiekenntnisse über diese Weltgegend waren mehr als mangelhaft. Er hatte keine Ahnung, wie lange er auf diesem Kahn ausharren musste, bis er mit Hilfe rechnen konnte, zwei Tage, eine Woche? Aber eines wusste er genau: der Mannschaft war nicht zu trauen. Es blieb nichts anderes übrig, als sich zu verbergen, bis es eine Chance gab, zu türmen oder wenigstens jemanden anzurufen. Er verfluchte seine Hartnäckigkeit innerlich, der er diese ausweglose Lage verdankte. Noch mehr ärgerte ihn, dass Anna Recht behielt.

      Die Strategie war also, möglichst lange unentdeckt zu bleiben, aber wie sollte er sie umsetzen? Auf dem Deck konnte er sich nicht lange ungesehen herumtreiben, zu gefährlich. Die beste Lösung schien ihm eine leere Mannschaftskabine, sofern so etwas existierte, möglichst in der Nähe der Kombüse oder Vorratskammer. Er brauchte Wasser, Nahrung und irgendwann müsste er ein paar Stunden ungestört schlafen können.

      Er lief an der Wand des Deckhauses entlang zur Tür. Als sich nichts regte, öffnete er sie einen Spalt und warf einen vorsichtigen Blick ins Innere. Ein leerer, dunkler Korridor lag vor ihm. Er schlüpfte hinein und wollte die Tür hinter sich zuziehen, als er plötzlich Schritte hörte. Oberhalb der Treppe erschienen die schweren Schuhe eines Mannes, der ihn im nächsten Augenblick bemerken musste. Lee blieb keine Zeit mehr, zur Tür hinaus zu fliehen. Mit einem Sprung rettete er sich in einen dunklen Seitengang, der von der Treppe wegführte, aber der Matrose musste die Bewegung gesehen haben. Er rief etwas Unverständliches, das ziemlich unwirsch klang. Russisch, vermutete Lee, dem nichts Besseres einfiel, als sich möglichst klein zu machen. Er beugte sich vornüber, als suchte er etwas am Boden und streckte dem Fremden seinen Allerwertesten entgegen. Wieder sprach der Mann zu seinem Hintern. Russisch, definitiv, und ohne zu überlegen, was er tat, antwortete Lee mit dem einzigen russischen Wort, das er kannte, James Bond sei Dank: »Da, da!« – »Ja, ja!«. Der andere lachte heiser und verließ das Deckhaus. Klopfenden Herzens begann Lee mit seiner Suche nach einer Unterkunft.

      Für einmal hatte er Glück. Zwei Treppen höher stieß er auf eine Reihe offensichtlich unbenutzter Kabinen. Er wählte das Zimmer in der Nähe des Treppenhauses aus, das ihm die beste Fluchtmöglichkeit bot. Auf der eisernen Pritsche lag ein fleckiger, dünner Stofffetzen. Immerhin eine Matratze, dachte er grimmig. Ein Tischchen mit einem Plastikstuhl stand festgeschraubt in der Ecke, und durch ein winziges Bullauge fiel gerade soviel Licht, dass er die Taschenlampe nicht brauchte. In der engen Kabine war kein Platz für Annehmlichkeiten wie eine Dusche, aber zu seiner freudigen Überraschung fand er hinter einer Tür ein funktionierendes WC und ein Waschbecken, kaum größer als eine Kaffeetasse. Hier würde er zwei, drei Tage überleben, sollte es keinen anderen Ausweg geben. Zum ersten Mal an diesem Morgen fühlte er sich einigermaßen wohl und sicher. Er setzte sich auf die schmierige Matratze und schaltete das Handy ein. Kein Antennensignal, wie befürchtet. Sie waren weit entfernt von jeder Küste, und so würde es wohl noch lange bleiben. Er konnte nichts anderes tun, als warten, bis es dunkel wurde. Nachts würde der größte Teil der Besatzung schlafen. Die Gefahr, entdeckt zu werden müsste dann wesentlich geringer sein. Er streckte sich auf dem unbequemen Bett aus, schaute den vorbeiziehenden Wolken durch das Bullauge zu und überlegte sich die nächsten Schritte. Das gleichmäßige Stampfen und Brummen der Maschinen schläferte ihn allmählich ein. Er schloss die Augen.

      Als er erwachte, war es stockdunkel in der Kabine. Erschrocken schaute er auf das Display seines Telefons. Halb zwölf Uhr nachts, Kochi Time. Er war jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden auf diesem elenden Frachter.

      Sein knurrender Magen ließ ihm keine Wahl: es war Zeit für seine nächtliche Entdeckungsreise. Geräuschlos und zielsicher wie eine Schiffsratte arbeitete er sich nach oben. Er nahm an, dass sich Küche und Aufenthaltsräume in der Nähe der Brücke befinden mussten. Mehr als einmal zog er sich in dunkle Nischen zurück, weil er glaubte, Schritte oder Stimmen zu hören. Acht Treppen lagen hinter ihm. Wenn er sich nicht irrte, befand er sich jetzt auf Deck fünf, ein Stockwerk unter der Brücke. Er huschte an einer offenen Tür vorbei. Der Raum dahinter war dunkel, aber er blieb wie elektrisiert stehen, als er die leuchtenden Armaturen bemerkte. Kurz entschlossen glitt er hinein. Sein Puls beschleunigte sich, als er den Computer sah, der neben der Funkanlage auf dem Tisch stand. Er bewegte die Maus ein wenig. Der Bildschirm erwachte zum Leben und präsentierte ihm das bekannte Bild des Webbrowsers. Er unterdrückte einen freudigen Ausruf, denn es sah ganz danach aus, dass dieser PC mit dem Internet verbunden war, wohl über das Satellitentelefon des Schiffs. Über die Tastatur gebeugt, tippte er die Adresse seines Webmail-Dienstes ein, doch plötzlich zerriss ein lauter Summer die Stille der Nacht und ein rotes Licht begann aufgeregt zu blinken. Als hätte ihn eine Schlange gebissen, zuckte er zurück, hetzte aus dem Funkraum, um die nächste Ecke, gerade rechtzeitig, dass ihn der herbeieilende Wachoffizier nicht bemerkte. Das war knapp, aber er hatte jetzt das Tor zur Welt gesehen. Er wagte erst einen Blick in den Korridor, als er hörte, wie sich der Mann wieder entfernte. Eine Tür am Ende des Flurs ging auf, ein Matrose trat mit einer Tasse in der Hand zum Offizier und wechselte ein paar Worte mit ihm. Lee wartete, bis die beiden verschwunden waren, dann huschte er zur verheißungsvollen Tür, horchte angestrengt, atmete tief durch und öffnete sie schließlich. Vor ihm lag das Paradies, er stand in der Küche, allein unter auserlesenen Köstlichkeiten wie grasgrünen Äpfeln, hartem Käse und trockenem Brot. Eine dicke Thermoskanne mit warmem Tee stand auf der Anrichte. Gierig trank er eine Tasse um die andere, bevor er sich die Taschen mit Esswaren vollstopfte und vorsichtig wieder zur Tür hinaus schlüpfte.

      Morgen. In seinem geistigen Logbuch machte er den betrüblichen Eintrag: 09:00, der dritte Tag! Küste gesehen. Immer noch keine Kommunikation. Kurs Nord. Wenn er nur wenigstens einen Blick auf das Navigationsgerät werfen könnte. Ein paar Mal war er versucht, die Brücke zu betreten und seine Tarnung auffliegen zu lassen, nur um endlich