Ulrich Wißmann

Skalpjagd


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der Abenddämmerung seinen Beobachtungsposten an der Abbruchkante eines Tafelberges bezogen, von der er Einblick in einen der namenlosen kleineren Seitencanyons des Kaibito Plateaus hatte. Dort unten lag der Hogan der verdächtigen Person, die er observieren musste.

      William Nez stand bei den Bewohnern dieser Gegend schon lange in Verdacht, ein Hexer zu sein.

      Das war an sich kein Verbrechen, weder nach den Gesetzen der Navaho Nation, noch nach dem Recht der Weißen. Doch seit mehr als einem Jahr wurden in der nicht allzu weiten Umgebung immer wieder Grabstellen geplündert, und Grabschändung stellte sehr wohl eine kriminelle Handlung dar. Bei einer Befragung der hiesigen Landbevölkerung war Begay immer wieder von William Nez erzählt worden, so dass er es für klug hielt, ihn sich einmal näher anzusehen. Aber Nez war bisher nicht aufgetaucht.

      Unten im Canyon liefen Schafe und Ziegen herum, bewacht von zwei großen Hunden. Es gab nur einen Ausgang aus dem Canyon, den Nez mit einem Zaun geschlossen hatte. Außerdem gab es eine Wasserstelle und genug zu fressen, so dass er die Tiere eine Weile allein lassen konnte.

      Der traditionelle achteckige Hogan und ein Wellblechschuppen lagen verlassen da. Wer hier draußen allein wohnte und nicht völlig autark war, brauchte ein Auto zum Überleben.

      Von der Zulassungsstelle wusste Begay, dass Nez einen alten Truck besaß. Wenn Nez zurück kam, würde er ihn auf dem Fahrweg durch die Schlucht kommen sehen. Und sollte Nez wirklich der gesuchte Übeltäter sein, würde er einen Truck brauchen.

      Während die Navaho traditionell Angst vor Toten hatten und dem Kontakt mit ihnen möglichst aus dem Weg gingen, aus Angst, von dem Chindi, dem Totengeist der Person, verfolgt zu werden, versuchten Hexer, sich Leichenteile zu verschaffen. Mit dem daraus gewonnenen Leichenstaub, den sie in der Haut von Verstorbenen aufbewahrten, versuchten sie, Macht über ihre Mitmenschen auszuüben. Mischte eine Hexe oder ein Hexer Leichenstaub ins Essen oder blies ihn seinem Opfer ins Gesicht, kam das oft einem Todesurteil gleich.

      Die Religion der Dineh, wie sich die Navaho selbst nannten, basierte auf der Harmonie in der Schöpfung, auf dem Gleichgewicht zwischen allen Lebewesen und Dingen. Dieses Gleichgewicht wurde durch das Berühren oder sogar In-sich-aufnehmen des Todes zerstört und man konnte nur durch die Reinigungszeremonie eines Heilers, wie zum Beispiel den Ghost way, wieder gesund werden. Aber ganz abgesehen von diesem spirituellen Aspekt konnte man sicher auch rein medizinisch gesehen dadurch erkranken. Und bei einem Volk, das panische Angst vor der Berührung mit Toten hatte, löste das unbeabsichtigte Einatmen oder Verschlucken von Überresten eines Toten einen lebensgefährlichen Schock aus.

      Während bisher aus den geschändeten Gräbern nur Teile der Leichen entwendet worden waren, war im letzten Fall der ganze Leichnam verschwunden. Stanley Hakeah war ein weithin bekannter und angesehener Heiler und Mitglied der einflussreichen Medicine Men Association der Dineh gewesen. Er hatte weitab von anderen Menschen allein gelebt. So hatte man seinen Tod erst spät bemerkt. Es war zu spät gewesen, ihn auf die Reise ins Jenseits vorzubereiten, indem man ihm die Haare mit einem Sud aus Yucca-Wurzeln wusch und seine Mokassins zu vertauschen, um die bösen Geister, die ihm auf seinem Weg in die Geisterwelt eventuell folgen könnten, zu verwirren.

      Niemand war da gewesen, um Stanley Hakeah aus dem Hogan zu bringen, damit sein Geist sich im Augenblick des Todes auf die ewige Reise begeben konnte. So hatten seine Verwandten zunächst ein Loch in die Decke seines Hogans geschlagen, so dass der Chindi heraus konnte. Anstatt ihn in der Umgebung unter Felsen zu begraben und die Türöffnung und den Rauchfang des Hogans zu verschließen, wie es üblich gewesen wäre, hatten sie später unter Ausführung der üblichen Rituale und nachdem sie ihm seinen Medizinbeutel und einen Behälter mit Maispollen mitgegeben hatten, den gesamten Hogan über ihm zum Einsturz gebracht.

      Vor zwei Tagen hatten in der Gegend lebende Dineh, die ihre Schafe an dem Totenhogan vorbei trieben, dann entdeckt, dass er geöffnet worden war. Die Leiche von Stanley Hakeah war verschwunden. Der Dieb hatte mit den Überresten eines so machtvollen Medizinmannes sicher etwas Besonderes vorgehabt und sie deshalb ganz mitgenommen. Und sollte der Täter wirklich William Nez sein, konnte es gut sein, dass er die Leiche hierher transportiert hatte, um dann in aller Ruhe mit ihr zu machen, was immer er vorhatte.

      Officer Begay schauderte bei dem Gedanken. Die Frage war nur, ob Nez sich sicher genug fühlte oder ob er von den Verdächtigungen gegen ihn wusste, falls er überhaupt schuldig war. Zufällig würde ihn hier draußen sicherlich niemand beobachten! Natürlich passte Nez ins Klischee eines Hexers. Er war ein alter Mann, der ohne Kontakt zu den Nachbarn (die auch viele Meilen entfernt lebten), ohne Freunde oder Verwandte ganz allein in der Wildnis lebte, wahrscheinlich dementsprechend eigenbrötlerisch war, kaum Englisch sprach und sich traditionell kleidete.

      Während Begay darüber nachdachte, wie glaubhaft die Anschuldigungen gegen Nez sein mochten, meldete sich sein Funkgerät. Er ging von der Felskante zurück zu seinem Truck.

      „Hier Officer Frank Begay.“

      „Hallo Frank“, meldete sich eine freundliche weibliche Stimme, die seiner Erinnerung nach zu einer hübschen jungen Angestellten in der Zentrale der Stammespolizei gehörte, „hier spricht Window Rock. Wir müssen Sie leider bei der Hexenjagd stören! Sie sind bei uns von der Bundespolizei angefordert worden!“

      Begay war überrascht: „Von der Bundespolizei? Warum das?“

      „Keine Ahnung! Muss wohl ’ne wichtige Sache sein. Hier ist ein Typ vom FBI aufgeschlagen, der Sie einweisen soll. Wann können Sie hier sein?“

      Begay sah auf die Uhr: „Wenn ich sofort losfahre, so gegen Mittag. Was wird dann aus der Observation hier?“

      „Wir schicken einen Kollegen. Machen Sie sich auf den Weg!“

      Begay beendete das Gespräch und ging nochmal an den Rand des Felsens. Von hier konnte er weithin über die farbenprächtige Landschaft der Painted Desert sehen. Die Sonne stand schon ein Stück höher am Himmel und die Luft über den bizarren Felsformationen begann bereits zu flimmern. Begay kniff die Augen zusammen. Weit entfernt über den Bergen und Canyons ließ sich ein einsamer Geier von den jetzt entstehenden Aufwinden langsam in die Höhe tragen. Von Nez war weiterhin keine Spur zu sehen. Sollte sich jemand anderes darum kümmern.

       II

      Begay erreichte Window Rock, das Verwaltungszentrum der Navaho Indian Reservation, gegen ein Uhr mittags. Da er auf eine längere Observation vorbereitet gewesen war, hatte er reichlich Lebensmittel dabeigehabt und unterwegs nur einmal gehalten, um ein Sandwich zu essen. In Window Rock, das seinen Namen einem Durchbruch in einer Felswand oberhalb des Ortes verdankte, fuhr er sofort zum Hauptquartier der Stammespolizei. Er wurde bereits erwartet.

      Captain Blackhat, sein Vorgesetzter, mit dem ihn ein nicht immer ungetrübtes Dienstverhältnis verband, führte ihn in sein Büro, wo ihn ein junger Mann in offensichtlich teurem Anzug, italienischen Schuhen und mit tadellosem Haarschnitt begrüßte. Begay wurde bewusst, wie staubig und zerknittert seine Kleidung, bestehend aus Jeans, Hemd und Turnschuhen, aussehen musste. Er hatte seit zwei Tagen keine Dusche gesehen und sein schulterlanges Haar fühlte sich nach der Fahrt auf etlichen Sandpisten staubig an.

      Blackhat machte die beiden bekannt, wobei er den jungen Mann als Agent Taylor vom FBI-Büro in Albuquerque vorstellte. Die Männer gaben sich die Hand und nach dem Austausch von Freundlichkeiten, wie er unter weißen Amerikanern üblich war, kam Taylor zur Sache.

      „Officer Begay, wie Sie bereits gehört haben, haben wir im Zuge der Amtshilfe um Ihre Dienste gebeten. Wir haben einen Mordfall im Norden, bei dem wir und die örtlichen Behörden bisher völlig im Dunkeln tappen.“

      „Und warum sollte ausgerechnet ich Ihnen da helfen können?“, fragte Begay skeptisch.

      „Nun, Sie stehen im Ruf, ein begnadeter Spurenleser zu sein! Das könnte uns weiterhelfen. Bisher konnten wir in keinem Fall einen Tatort mit Sicherheit ausfindig machen. Unser Täter legt offensichtlich großen Wert darauf, seine Opfer von dort wegzuschaffen. Das legt die Vermutung nahe, dass der Tatort etwas über den Mörder oder sein Motiv aussagen würde.“

      „Sie sagen, es geht um mehrere Morde?“, fragte