»Ja und nein.« Mit viel Gas schoss er nach rechts auf die Bundesstraße, der Fahrer hinter ihm bediente virtuos seine Lichthupe. »Nicht speziell auf dich oder mich, aber auf Leute, die sich für Mutter Zinneck interessieren.«
»Warum denn das ?«;
»Um herauszufinden, ob einer die falsche Identität des Hans Zinneck durchschaut hat.«
»War sie denn falsch?«
»Ja. Die Mutter hat mir erzählt, dass ihr Sohn Hans vor zehn Jahren ertrunken ist.«
Nach zwei Minuten flüsterte Charlotte; »Die arme Frau.«
Er schaute starr geradeaus.
Auf der Insel stellte Rogge den Wagen in einem Parkhaus ab. Vielleicht hatten sie sich doch sein Kennzeichen gemerkt und unnütze Risiken sollte man sich ersparen.
Bis zur nächsten Abfahrt der Fähre bummelten sie wortlos durch die Stadt, es war alles gesagt, sie würden sich nicht wieder sehen.
Am Anleger küsste sie ihn flüchtig: »Danke, Jens.«
»Alles Gute.«
An Bord winkte Charlotte ihm noch einmal zu, Rogge hob die Hand und hockte sich auf ein Mäuerchen, bis das Schiff abgelegt und volle Fahrt aufgenommen hatte. Dann warf er die Zigarette fort.
Auf der Autobahn döste Rogge bei einem gemächlichen Tempo vor sich hin. Wer immer diesen Wolfgang Tepper mit falschen Personalpapieren ausgestattet hatte, pokerte hoch, aber mit Umsicht. Eine Legende aufzubauen war gar nicht so leicht, und eine der Hürden bildete die Gefahr, dass sich jemand an dem ausgewählten Geburtsort informierte, ob wirklich an dem angegebenen Tag ein XY dort geboren worden war. Unterstellt, für Tepper waren falsche Papiere benötigt worden - wer machte sich die Mühe, dafür die Personalien plus Universitätsdiplom eines vor zehn Jahren verunglückten Mannes zu besorgen? Wer konnte überhaupt wissen, dass jemand vor so langer Zeit ertrunken war? Irgendein Gauner, der Papiere fälschte? Klang das nicht eher nach einer Behörde, die alles immer ganz genau erledigte? Bürokratisch korrekt? Und wenn das so war - gewann dann Charlottes Behauptung, Wolfgang Tepper/Hans Zinneck habe als V-Mann für den BND gearbeitet, nicht an Glaubwürdigkeit? Und falls Rogge das bejahte: Hieß das nicht auch, dass es tatsächlich eine Liga gab, mit den verrückt-verbrecherischen Zielen, die Charlotte geschildert hatte?
Plötzlich lachte Rogge laut auf. Wie von selbst war er auf einen Parkplatz eingebogen. Er stellte den Karren ordentlich in eine Bucht und stieg aus. Am Himmel jagten dunkle Wolken schnell nach Osten und die Temperatur war fühlbar gesunken. Am Tisch nebenan hatte eine Familie zum Picknick gerüstet, sein Magen knurrte laut.
Wahrscheinlich ungewollt hatte Charlotte ihm ein paar wichtige Anhaltspunkte geliefert. Charlotte Bongartz, 38 Jahre alt, aus einer reichen Nürnberger Familie stammend, der Vater gestorben, als sie etwa 18 oder 19 war, sechs oder sieben Jahre später die Mutter, nach Frankreich verzogen, zum Schluss nahe bei Cannes wohnend - wenn er Charlotte noch mal finden musste, konnte er sie aufstöbern. Aber musste er das? Wer wollte ihn dazu zwingen? Rogge rauchte und schnupperte. Wie hatten die Eltern die Gulaschsuppe warm gehalten? Nur einmal angenommen, Charlotte hatte sich nicht getäuscht, sondern genau beobachtet, dann hatten zwei Gruppen sie beschattet. Die Ligisten und irgendein Dienst. Schön. Die einen fürchteten, sie könne ihr Gedächtnis wiedererlangen und dann ausplaudern, was ihr Hans Zinneck/Wolfgang Tepper anvertraut hatte. Das sprach für die Liga und genauso hatte sie kombiniert: kein Gedächtnis - keine Gefahr, dass sie etwas verriet - kein Grund, sie zu beseitigen. Aber welchen Grund sollte der Dienst gehabt haben, sich an ihre Fersen zu heften? Wenn Tepper/Zinneck wirklich als V-Mann eingesetzt gewesen war, gab es dafür nur eine überzeugende Erklärung: Der Dienst hatte seinen Agenten aus den Augen verloren und erwartete, Tepper/Zinneck werde sich bei Charlotte melden. Deren Aufenthaltsort er - wie übrigens auch die Liga - spätestens aus der XY ... ungelöst-Sendung erfahren hatte. Das hieß aber auch: Der Dienst wusste nichts davon, dass Tepper/Zinneck ermordet worden war.
Gut, denkbar, dass die eine Seite einen Überläufer beseitigt hatte und nun fürchtete, Charlotte habe am Abend des 15. September des vorigen Jahres in der Kassler Villa Beelestraße doch etwas bemerkt, was den Mörder überführen konnte. Denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Auf der anderen Seite - Rogge legte den Kopf weit in den Nacken und starrte in den Himmel hinauf. Beide, Liga wie Dienst, hatten Charlotte verloren, als sie sich halb nackt in das Auto setzte und einfach losfuhr, den oder die Täter abhängte. War das überhaupt möglich, in ihrem Zustand Auto zu fahren? Ihre Geschichte musste ja nicht stimmen; vielleicht hatte sie ihren Mann erschossen und sich dabei mit Blut besudelt, vielleicht hatte sie danach fliehen müssen, weil jemand ins Haus gekommen war oder sie die Nerven verloren hatte. Hatte sie Benno auf dem Parkplatz Feltenwiese bemerkt und gewähren lassen, um das verräterische Auto loszuwerden? Was zum Teufel sollte Rogge glauben?
Die große Erleuchtung blieb aus. Nebenan packte die Familie ein. Für ein halbes Käsebrötchen hätte er jetzt fast jeden Preis gezahlt, aber die Mutter jammerte dem Vater vor, es wäre nichts übrig geblieben.
In Herlingen herrschte ein fast bedrückender Sonntagsfrieden, nur zwei abgestellte Autos auf dem menschenleeren Marktplatz.
Wibbeke ließ mit schuldbewusster Miene die Zeitschrift sinken, als Rogge das Revier betrat.
»Herr Rogge. Wir haben Sie schon überall gesucht.«
»Ich war am Bodensee«, wich er aus.
»Es ist - nun ja, es ist etwas passiert«, sagte Wibbeke lahm und faltete das Blatt zusammen, wobei er Rogges Blick mied. Im Wachzimmer lachte die Mannschaft wie über einen guten Witz laut auf und Rogge schüttelte entmutigt den Kopf: »Spendieren Sie mir einen Kaffee?«
»Sicher.« Im Nebenzimmer waren sie ungestört und der Oberkommissar schloss umständlich die Tür. Das Fenster stand einen Spalt auf, es zog kühl herein.
»Marlene Fuhrmann«, begann Wibbeke zögernd. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und Rogge ahnte, dass er sich Vorwürfe machte.
»Was ist mit ihr?«
»Selbstmord.«
Das Wort hing lange zwischen ihnen und Rogge hätte am liebsten den Kopf auf die Arme gelegt und geschlafen. Nur nichts mehr hören, endlich abschalten, alles vergessen.
»Fuhrmann hat gestern Abend angerufen.«
Der Kaffee schmeckte nicht mehr, er hatte zu lange in der Thermoskanne gestanden. Trotzdem trank Rogge wie ein Verdurstender und verzog bei dem muffigen Nachgeschmack das Gesicht.
»Sie hat sich erschossen.«
»Warum? Warum bloß, Herr Wibbeke?«
»Es gibt keinen Abschiedsbrief ... Nein, nein, einwandfrei Suizid. Wir mussten die Tür aufbrechen. Aber das lag in ihrem Zimmer auf dem Tisch.«
Der Stockerbote vom Samstag. Das schreckliche Busunglück war mit Bildern auf Seite eins gelandet. Vier Tote, zweiundzwanzig Verletzte, davon sieben schwer. Auf der Aufschlagseite des Lokalteils hatte Ilse Matussek einen Aufsetzer geschrieben, sehr korrekt, wie er las. Ein Hauptkommissar R. quartierte sich im Stockauer Bären ein, um die Identität ... Charlotte mit Vornamen ... im Zuge der Ermittlungen drei Männer vorübergehend festgenommen ... Diebstahl, Hehlerei, Autoraub ... und der Verdacht, dass es sich bei dem Tod des Kindes Martin Lohse nicht um einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht handelte ...
»Was sagt Fuhrmann dazu?« Jedes Wort fiel Rogge schwer, die Zunge gehorchte ihm nicht mehr.
»Wenig. Dass ihre Ehe in die Brüche ging, als feststand, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Danach hat sie sich verändert. Er gibt das Verhältnis mit Angela Lohse zu, auch, dass er der Vater von Martin ist — oder war -, aber er ist felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau nie etwas von seiner Affäre erfahren hat.«
»Das würde ich an seiner Stelle auch behaupten.«
»Natürlich. Er war nicht - erschüttert, nicht wirklich entsetzt, meine ich. Durcheinander, verwirrt, kopflos, das schon,