Gedächtnis wiedergefunden hatte, traf selbst das nicht zu - dass Grem auf eigene Faust bis in den September hartnäckig wie ein Terrier auf ihren Spuren geblieben war, hatte sie nicht zu verantworten. Schön, ein Korinthenkacker mit ganz spitzem Bleistift würde aufheulen: unberechtigter Bezug von Sozialhilfe, vielleicht auch von Wohngeld, wenigstens seit Mai. Ach nein, das ergab alles nichts und selbst ein nur mäßig gewiefter Anwalt würde alle Argumente wie Krümel vom Tisch fegen.
Rogge konnte sie nicht festhalten und vielleicht durfte er es nicht einmal, solange skrupellose Typen hinter ihr her waren. Doch wenn er sie über die Grenze brachte, musste er auch dafür sorgen, dass man sie nicht länger verfolgte. Dazu verpflichtete ihn keine Vorschrift, sondern sein Gewissen.
»Reicht das Benzin?«, neckte sie und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wieso Benzin? - Ach so, ja, das reicht. Wenn ich bis Weihnachten hungere, kann ich Ihnen sogar das Fahrgeld bis nach Zürich schenken.«
»Leihen.«
»Abwarten. Noch haben wir’s nicht geschafft.«
Den Rest des Weges liefen sie schweigend. Ab und zu hörte er sie summen, nach allem, was sie erlebt hatte, schien sie unangebracht heiter zu sein. Aber sie hatte auch keinen Mann erschossen - oder doch? Zum Teil verstand er ihre Stimmung, sie hatte gebeichtet, ihn zum Mitwisser gemacht und damit einen Teil Verantwortung auf ihn abgeladen. Irgendwann, nicht heute, musste er sich entscheiden, was er wegen des Mannes unternahm, den er im Motelgarten erwischt hatte. Obwohl - er konnte später viel erzählen, aber nichts beweisen.
Aus den Wipfeln der Nadelbäume stieg senkrecht ein feiner Dunst auf. Doch die Sonne würde sich nicht mehr durchkämpfen. Auf dem Parkplatz gähnte sie, was sofort ansteckte.
»Es war eine kurze Nacht«, erklärte sie verlegen.
»Und der Tag wird noch lang.«
Auf der Autobahn berichtete sie, wie sie in eines der Motelzimmer eingedrungen war; man würde eine zweite Verandatür neu verglasen müssen.
»Wie haben Sie die Leute überhaupt bemerkt?«
Sie kicherte nervös: »Einer ist ins Wasser gefallen, als sie die Boote kontrollierten. Vor Schreck hat er gebrüllt.«
»Glück muss die Frau haben«, kommentierte er trocken.
Vor seiner Haustür zupfte sie ihn am Jackenärmel: »Bei Ihnen gibt’s doch bestimmt eine Dusche?«
»Und ein Handtuch, na klar doch. Haben Sie eigentlich Ihre Ausweise und Papiere dabei?«
Sie klopfte auf die Handtasche: »Immer. Ich lebe - auf Abruf.« Sie zögerte und streckte trotzig das Kinn vor: »Seit ich Sie kennen gelernt habe.«
Rogge verließ den Aufzug vor ihr und ging auf seinen Flur zu, bog um die Ecke und zuckte zurück. Sie prallte auf ihn, gerade noch rechtzeitig war er herumgefahren und presste ihr eine Hand auf den Mund: »Kein Laut. Zurück zur Treppe!«
»Waas«, gurgelte sie, aber Rogge drehte sie schon herum und schubste sie. Zum Glück gehorchte sie ohne Widerstand, die beiden Männer, die vor seiner Wohnungstür dösend an der Wand lehnten, hatten ihn wohl nicht bemerkt, Rogges Schuhe machten keinen Lärm. Löchrige Jeans, Lederjacken und lange, ungepflegte Haare; ausnahmsweise schienen sie es mit Polizei, mit Zivilfahndern zu tun zu haben. Obwohl sie aussahen, als bestünde ihr größtes Vergnügen darin, bei Dunkelheit kleine Mädchen zu erschrecken.
»Runter!«
Hoffentlich hatte Frau Staatsanwältin wie immer am Samstag lange geschlafen, Rogge klopfte, einmal, zweimal, hinter der Tür hörte er Schritte, und als Dörte von Sandau den Mund zu einer geharnischten Predigt öffnete, legte er ihr rasch einen Finger an die Lippen: »Leise!«
»He, was ist ...« Trotz des Protestes hatte Dörte von Sandau unwillkürlich die Stimme gesenkt, Rogge schob beide Frauen energisch in die Diele und klinkte die Tür lautlos zu. Erst dann wagte er tief durchzuatmen.
»Welcher Floh hat dich heute gebissen - und wer sind Sie?«
»Darf ich vorstellen? Dörte von Sandau, Staatsanwältin ihres Zeichens. Inge Weber. Zwei Flöhe stehen oben vor meiner Wohnungstür und warten auf mich.«
»He? Was? Wer wartet auf dich?«
»Liebe Dörte, Inge Weber ist die Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat.«
»Das sind Sie?« Ein guter Staatsanwalt ließ sich nicht verblüffen und trotz seiner Anspannung musste Rogge schmunzeln, als er sah, wie Dörte von Sandau sich bemühte, ihrer Rolle der Unerschütterlichen gerecht zu werden.
Charlotte sah sie schuldbewusst an, mit einer Staatsanwältin hatte sie nicht gerechnet, deshalb redete Rogge rasch weiter: »Sag mal, Dörte, du könntest mir einen Gefallen tun.«
»So?«
»Die Blumen in meiner Wohnung müssen gegossen werden.«
»Die einzigen Blumen, die ich bei dir je gesehen habe, welkten in Biergläsern.«
»Das weißt du, mein Schatz, das ist aber den beiden Typen unbekannt.«
»Welchen Typen?«
»Die vor meiner Wohnungstür herumlungern.«
»Ich verstehe. Du bist also verreist?«
»Exakt. Und zwar bis zum Sonntagabend.« Rogge nestelte den Schlüssel von seinem Bund. »Nach Wiesbaden, zum BKA, falls man dich fragt. Dort will ich mit einem guten Bekannten privat sprechen, und zwar über einen gewissen Wolfgang Tepper, gegen den vor - wann war das ... ?«
Charlotte schrak zusammen, als er sie anredete, und Dörte spitzte die Lippen: »Gut sieben Jahre.«
»... gut sieben Jahren wegen - ich vermute mal: betrügerischen Konkurses ermittelt worden ist. Mich interessiert besonders, wer daran gedreht hat, dass das Verfahren eingestellt wurde.«
»Aha. Und mit all diesen Neuigkeiten soll ich den Knaben um den Hals fallen?«
»Ich halte sie für Zivilfahnder. Also werden sie sich ausweisen, du wirst dich als Staatsanwältin vorstellen und dir alle diese Details bröckchenweise aus deiner hübschen Nase ziehen lassen.«
»Großartig. Und das ganze Manöver nur, damit ihr in deine Wohnung könnt?«
Ihr leicht unfreundlicher, anzüglicher Ton entging ihm nicht; sollte Dörte eine leise Regung von Eifersucht verspüren? »Nein. Ich bin’s leid, dass mich alle herumschubsen, ich will endlich Stinkbomben werfen.«
Dörtes Blick wanderte zwischen ihm und Charlotte hin und her, bis sie schließlich ungehalten die Schultern zuckte: »Für unsere Kripo tun wir doch alles. Also verhaltet euch schön ruhig, ich werd sie in die Wüste schicken.«
Hinter Dörte fiel die Tür unnötig laut ins Schloss; Rogge zwinkerte Charlotte zu und ging zum Telefon, das er unter einem Berg von Akten ausgrub.
Hauptkommissar Kierle wollte gerade seine Wohnung verlassen und knurrte: »Ja, Jens, was gibt's?«
»Tut mir Leid, wenn ich störe, aber ich sitze da in einer Klemme. Ist dir der Name Liga mal untergekommen?«
»Liga?«
»Angeblich ein sehr exklusiver Verein von rechten Kapitalisten. Operieren international, Antidemokraten, antisemitisch und weiß der Geier was noch, und damit tarnen sie zum Beispiel Waffengeschäfte und illegale Industrieexporte.«
Am anderen Ende blieb es lange still, Rogge drückte sich die Daumen, dann räusperte sich Kierle umständlich: »Wie bist du denn darauf gestoßen?«
»Ach, durch einen Zeugen. Hat bei einer Investmentfirma gearbeitet und wohl was mitgehört, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Mit der Folge, dass jemand versucht hat, ihn umzubringen. Behauptet er, aber dafür suche ich noch Beweise.«
»Sag mal, Jens, diese Liga, die würde mich interessieren. Wo bist du jetzt?«