Tages keuchte ein Jogger in das Geschäft. Er sah aus, als hätte er mit seinen Klamotten unter der Dusche gestanden. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht. Man könne auch alles übertreiben. Er wurde sehr zornig und am nächsten Tag kam er wieder. Wieder klitschnass. So habe ich Achim kennen gelernt. Natürlich wollte er was von mir - soll ich Ihnen mal verraten, wie er mich herumgekriegt hat? Mit einem einzigen Satz: Lieber eine Frau ohne Gedächtnis als eine Frau mit Krebs.«
»Das klingt sehr herzlos.«
»Ja, das hab ich ihm auch vorgeworfen und dann hat er mir von Miriam erzählt. Der erste Mann, der mich als Frau so akzeptiert hat, wie ich war. Der nicht versuchte, mich zu heilen. Oder hinter mir herzuschnüffelte, wie Ihr Kollege Grem und seine Leute ... Ja, ja, ich hatte mein Gedächtnis verloren, aber nicht meinen Verstand, und dass da immer Männer und Frauen hinter mir herschlichen, habe ich natürlich bemerkt.«
»Wann ist dieses graue Loch verschwunden?«
»Ende Mai.« Sie antwortete ohne Zögern. »Vor einem Schaufenster in der Semperstraße. Ein Reisebüro. Die hatten ein Plakat von Cannes aufgehängt, für irgendwelche Wochenendtrips. Das Panorama kam mir seltsam bekannt vor, das hatte ich schon einmal gesehen, Cannes, und plötzlich ging ein Vorhang auf. Nicht blitzartig, sondern wie - wie - wie ein langsamer Film.«
»Dann erinnern Sie sich also auch ...«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Es gibt immer noch eine Lücke. Von dem Moment an, wo der Motor ansprang, bis zu dem Augenblick, an dem ich neben diesem Jödel in seinem Auto saß.«
Das würde Bennos Anwalt freuen, dachte Rogge grimmig. Und eigentlich spielte es überhaupt keine Rolle, ob sie nun log, weil sie etwas verbergen wollte, oder die Zeit hinter dem Steuer tatsächlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht war.
»Warum haben Sie niemandem erzählt, dass Ihre Amnesie vorbei war?«
»Weil ich Angst hatte.«
»Angst vor wem?«
»Vor den Ligisten. Vor den Mitarbeitern des Dienstes. Vor den Leuten, die hinter mir her waren.«
»Sie hätten zur Polizei gehen können.«
»Der hab ich auch nicht mehr getraut.« Sein skeptischer Blick entging ihr nicht, sie straffte sich: »Herr Rogge, ich hab’s nicht gern, wenn man mich für dumm hält. Zinneck besaß Personalpapiere auf den Namen Hans Zinneck, Geburtsurkunde, Abi-Zeugnis, Führerschein, eben all den amtlichen Krams, den der gute Bundesbürger im Laufe eines Lebens ansammelt. Wer hat ihm diese Papiere besorgt?«
»Vielleicht keiner, vielleicht waren sie echt, weil er tatsächlich Hans Zinneck war«, versuchte er sie zu reizen, doch sie erklärte bedächtig: »Eben das wollte ich feststellen.«
»Wie das?«
»Er hatte mir noch in Frankreich mal erzählt, er sei in Lindau geboren und seine Mutter lebe noch dort.«
Die Idee ist nicht schlecht, überlegte Rogge. Irgendwo musste sie ja anfangen. In Frankreich hatte sie den Worten des Hans Zinneck geglaubt, jetzt durfte sie nichts mehr ungeprüft für wahr halten. Aber warum hatte sie damit so lange gewartet?
Mit der Antwort ließ sie sich Zeit. »Solange mir alle glaubten, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte, war ich ungefährlich. Deswegen habe ich den Mund gehalten und weiter Inge Weber gespielt. Bis Sie dann kamen und mir erzählten, dass meine Tarnung geplatzt war.«
»Dieser Wolfgang Tepper - hat Zinneck, oder wie er tatsächlich hieß, etwas über Wolfgang Tepper erzählt?«
»Ja, hat er. Er war Investmentberater und Anlagenvermittler in Frankfurt und lebte im Taunus. Mit seiner Frau Karin.« Rogge zuckte zusammen, aber sie schaute an ihm vorbei. »Bei einem riskanten Geschäft hatte er sich gründlich verschätzt und Verluste gemacht. Um die auszugleichen, vergriff er sich an Kundengeldern, alles geriet ins Rutschen und eines Tages rief ihn jemand an, er solle sich auf den Besuch des Staatsanwaltes vorbereiten. Der erschien dann auch, aber Zinneck-Tepper hatte die verfängliche Korrespondenz vernichtet. Während der Untersuchung tauchte dann plötzlich ein Mann auf, der Tepper einen Handel vorschlug. Wenn Tepper sich bereit erkläre, für einen Geheimdienst als V-Mann zu arbeiten, würde der Dienst dafür sorgen, dass der Staatsanwalt die Ermittlungen einstelle.«
»Worauf er sich eingelassen hat.«
»Ja. Er hatte nichts mehr zu verlieren, sein Geschäft war pleite, seine Frau hatte ihn verlassen, und er wurde auf die Liga angesetzt.«
»Das hat er Ihnen am frühen Abend des 15. September in Kassel berichtet.«
»Ja. So kam er nach Cannes, weil es dort einen Ring von Waffenhändlern geben sollte.«
»Diese Liga - er muss doch was über diesen Verein herausgefunden haben.«
»O ja. Eine Art Geheimbund, international, etwas für feinere, betuchte Leute. Vorherrschaft der arischen Rasse, antisemitisch, rassistisch, elitär und natürlich antidemokratisch. Herrschaft der Besten über eine ständisch gegliederte Gesellschaft.«
»Das klingt alles sehr abstrus.«
»Kann sein, Herr Rogge, aber Hans nahm sie ernst. Alles sehr exklusiv, nichts Schriftliches, man wurde mündlich aufgefordert beizutreten, und wenn man dazugehörte, beteiligte man sich äußerst diskret an illegalen, aber lukrativen Geschäften mit muslimischen Staaten.«
»In Form von Waffenschmuggel.«
»Zum Beispiel. Oder Lieferung von Firmen, die verbotene Sachen hersteilen, wie etwa Giftgas.« Charlotte Bongartz zuckte die Achseln und ignorierte Rogges forschenden Blick. Von der Existenz dieser Liga hatte sie Rogge nicht überzeugt. Zinneck/Tepper konnte durchaus vor zornigen Gläubigern oder skrupellosen Waffenhändlern auf der Flucht gewesen sein, was er ihr gegenüber mit der V-Mann-Existenz für einen Geheimdienst verbrämte. Allerdings irritierte Rogge ein Detail: dass ein Ermittlungsverfahren gegen Wolfgang Tepper niedergeschlagen worden war, sozusagen als Köder für seine Mitarbeit. Das ließ sich bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt nachprüfen.
»Hat Tepper den Namen des Staatsanwalts genannt, der damals in Frankfurt gegen ihn ermittelt hat?«
»Dr. Driesch, den Vornamen habe ich vergessen.«
Noch war nichts von ihrer Räuberpistole bewiesen. Weder ihr Name noch ihre Heirat mit einem Hans Zinneck alias Wolfgang Tepper, einfach gar nichts. Vielleicht verschaukelte sie Rogge auch gewaltig und amüsierte sich heimlich über ihn. Ihre Intelligenz unterschätzte Rogge nicht; wenn sie die Amnesie immer nur vorgetäuscht hatte, und nicht erst seit Mai, durfte er nie vergessen, dass sie einige erfahrene Arzte und Psychiater an der Nase herumgeführt hatte. Weil sie den Mann in Kassel erschossen hatte? - Wenn es da überhaupt einen Toten gegeben hatte! Sein Gefühl sträubte sich gegen diesen Verdacht, aber Gefühle waren schön, Beweise besser.
»Sie glauben mir nicht?«
Bei ihrer ruhigen, fast beiläufigen Frage zuckte Rogge zusammen: »Es fällt mir schwer, Frau Bongartz.«
»Das verstehe ich.«
»Ich bin Polizist, und wenn man so oft angelogen worden ist wie ich, entwickelt man großes Misstrauen. Besonders bei so ungewöhnlichen Geschichten.«
»Das nehme ich Ihnen nicht übel, aber umgekehrt wird auch ein Schuh daraus, Herr Rogge: Was hätten denn Sie - oder Ihr Kollege Grembowski - gesagt, wenn ich mit dieser Story zu Ihnen gekommen wäre?«
Was sollte Rogge darauf erwidern? Grem hätte sich vor Lachen gekugelt. Und er selbst? - Gut, er hätte sich nicht auf ihre Kosten amüsiert, in dem Punkt besaß er mehr Takt als Grem - aber geglaubt hätte er ihr auch nicht.
»Erst gelacht, dann nachgedacht. Richtig?«
»Wahrscheinlich«, gab er zu.
»Na fein. Dann bei den Kollegen in Kassel angerufen. Ob da im vergangenen September eine männliche Leiche gefunden worden ist. Im Haus Beelestraße 11.«
»Natürlich.«