Streifen ab. Ihm stockte der Atem. Vor diesem Hintergrund bewegte sich, wie aus dem Boden gezaubert, eine dunkle Gestalt, ein Mann, der im schrägen Winkel auf die Veranda zu schlich. Seine Silhouette veränderte sich, der Mann drehte den Kopf zur anderen Seite, Rogge folgte der Bewegung, eine zweite schwarze Figur näherte sich von rechts, bog ab, als wolle sie im Schutz der Hauswand neben die Verandatür gelangen. Wenn er diese Deckung erst einmal erreicht hatte - mehr aus Instinkt als Überlegung riss Rogge seine Waffe hoch und feuerte durch das Glas, einmal, die linke Figur schwenkte nach rechts, die rechte erstarrte, der Mann links hob den Arm in Rogges Richtung, Rogge glaubte zu ersticken. Ein Albtraum wurde wahr, an die Bewegung des jungen Rumänen erinnerte Rogge sich wie in einer grotesk überdehnten Zeitlupe, das durfte ... Er zielte und wusste dabei glasklar, dass er jetzt aus Panik handelte. Der Schuss peitschte in seinen Ohren, der Mann stockte, ließ den Arm sinken, fiel um wie eine schlaffe Stoffpuppe und dann bemerkte Rogge in den Augenwinkeln, dass die rechte Figur in langen Sätzen davonsprang.
Irgendwo im Motel regte sich etwas. Bei diesen dünnen Wänden musste jemand von den Schüssen aufgewacht sein ...
»Los, raus! Wir müssen weg!«
Erst jetzt registrierte Rogge, dass Charlotte Zinneck wimmerte.
»Los!«
Dann stand sie neben ihm, keuchend vor Angst, und er zerrte sie rücksichtslos auf die Veranda.
»Was ist - was war ...«
»Später, wir müssen weg, bevor der zweite Mann Hilfe geholt hat.«
Trotzdem nahm Rogge sich die Zeit, kurz bei dem umgefallenen Mann niederzuknien. In seiner Angst hatte er nur zu gut gezielt, den Griff nach der Halsschlagader brauchte er gar nicht. Den Toten kannte er nicht. Ein mittelgroßer Mann, Mitte dreißig, sportlich und muskulös. Haare kurz geschnitten, nach der Erscheinung kein Schläger. Wahrscheinlich maßgeschneiderter Anzug. Seidenkrawatte. Eine Rolex.
Hastig durchwühlte Rogge die Taschen. Goldenes Feuerzeug, silberner Kugelschreiber und ledergebundener Notizblock mit leeren Seiten, fast 6.000 DM in bar, aber keine Ausweispapiere. Beim Blick auf die Waffe hielt Rogge unwillkürlich die Luft an; dieses Modell hatte er schon einmal gesehen, Heckler & Koch mit hülsenloser Munition.
Jetzt wurde es von Minute zu Minute heller. Weit entfernt klappten mehrere Autotüren.
»Kommen Sie!«
Hand in Hand rannten sie Richtung See, sie greinte, schluchzte, wenn sie stolperte und er sie einfach weiterschleifte. Das Motel besaß einen eigenen Bootsanleger, von dort führte eine Holzbohlenbrücke zu einem Liegeplatz, sie mussten noch eine Stunde überstehen, dann war es hell ... Als Rogge sich einmal umdrehte, ahnte er vor dem dunkelgrauen Hintergrund mehrere schwarze Schatten, die auf das Motel zustürmten. Verdammt, war hier eine ganze Kompanie angetreten?
Die Stiche in der Seite brachten ihn bald um. Auch Charlotte Zinneck keuchte, japste nach Luft. Die Boote vor ihnen waren zu klein.
»Da rüber!«
Auf den Bohlen dröhnten ihre Schritte wie Silvesterböller. Jetzt nicht schlappmachen, ohne Überlegen entschied er sich: »Das große Boot!«
»Wo?«
An einer Stelle war die Plane über dem Cockpit nicht festgezurrt, wie hatte er das überhaupt in diesem Zwielicht sehen können? Sie hatte noch nichts begriffen, mit einer Hand hob Rogge die Plane an, beugte mit der anderen rücksichtslos ihren Kopf nach unten und stieß sie vorwärts: »Rein!«
Wie ein Sack fiel sie in die Vertiefung, Rogge folgte ihr, trat ihr auf den Arm, sie stöhnte laut auf, aber zu Entschuldigungen war jetzt keine Zeit, warum war diese verdammte Plane so sperrig, er kratzte sich die Fingerkuppen blutig, krallte und ruckte, endlich gab sie nach, glitt wieder in die alte Position. Hinter sich hörte er sie leise weinen.
Hoffentlich schwankte das Boot nicht - »Um Gottes willen, nicht bewegen!«
Der Rumpf kam zur Ruhe, jetzt konnte Rogge sich nur noch auf seine Ohren verlassen, aber die Stille war nicht weniger bedrohlich als vorhin das Knacken. Was würden die Männer tun? Sie schienen rücksichtslos und zu jedem Risiko bereit, aber wenn Rogge die Motelgäste mit den Schüssen aufgeweckt oder das Personal alarmiert hatte ...
Wie viel Zeit verstrichen war, vermochte er nicht zu schätzen, als er die leisen, verstohlenen Geräusche hörte. Quälend
langsam kamen sie näher, vorsichtige Schritte auf der Bohlenbrücke, sie hielten inne. Von der Brücke zweigten die Stege ab, wenn er die Schritte so genau hörte, konnten die Männer nicht weit entfernt sein. Gemurmel, die beiden sprachen miteinander, zu leise, um etwas zu verstehen. Dann trennten sie sich wohl, ein Schrittgeräusch entfernte sich, ein anderes kam näher, Rogge richtete die Pistole auf die Stelle über seinem Kopf. Wenn der Mann die Lücke in der Verzurrung entdeckt haben sollte ...
In der nervenfressenden Stille hörte es sich an, als trete der Unbekannte ihnen auf den Kopf, nein, er blieb nicht stehen, ging weiter den Steg entlang bis zum Ende. Kam zurück, etwas schneller, strich wieder an ihrem Boot vorbei, täuschte er sich jetzt? - Nein, die anderen Schritte ertönten von rechts. Wieder das unverständliche Gemurmel, dann entfernten sich die Schrittgeräusche. Entweder hatten sie es aufgegeben, weil sie nicht alle Boote durchsuchen konnten. Oder es wurde zu hell, sie mussten abziehen, bevor sie entdeckt wurden.
Charlottes schwerer Atem beruhigte sich.
»Wir müssen noch warten!«, hauchte Rogge. Es konnte eine List sein, vielleicht hofften die Männer auf ihre Ungeduld.
»Ja«, gab sie leise zurück.
Eine Viertelstunde. Wenn er sich nicht täuschte, wurden Motoren angelassen, ja, da fuhren Autos weg. Die Männer - oder Motelgäste?
»Setzen Sie sich auf den Boden, aber ganz vorsichtig.«
»Ja.« Er spürte die Bewegung, das Boot schaukelte wieder, Rogge griff nach ihrem Arm und sie hielt inne. Die Kante der Sitzbank drückte in seine Rippen, er biss die Zähne zusammen.
Noch eine Viertelstunde? Mittlerweile hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Warum blieb es oben so ruhig? Manche Gäste legten wohl wenig Wert darauf, die Polizei zu alarmieren und anschließend ihre Personalien zu Protokoll zu geben. Protokoll - er musste erklären, wie und warum er einen Mann erschossen hatte. Ohne Vorwarnung, ohne Anruf. Mit seiner Dienstwaffe. Ihm schwindelte.
Dann hielt Rogge es nicht mehr aus, drückte mit der Faust die Plane nach oben, bis Licht durch den winzigen Spalt fiel, gerade genug, die Zeiger auf seiner Uhr zu erkennen. Schon 7.30 Uhr. Sie konnten doch nicht über eine Stunde ...
»Sind sie weg?«
»Ich hoffe!«, versetzte Rogge barsch und schlängelte sich nach draußen. Alle Muskeln und Knochen protestierten, vorsichtshalber blieb er auf dem Holz liegen und schaute sich um. Kein Mensch weit und breit. Beunruhigt schüttelte er den Kopf. Wo waren die Kollegen ... oder hatten die Männer die Leiche mitgenommen?
»Kann ich rauskommen?«
Ungelenk und steif krabbelte sie auf den Steg und stöhnte, als er ihr aufhalf. Richtig hell war es nicht geworden, dicke Wolken hingen tief über dem See, aber in dem trüben Licht konnte Rogge das Motel erkennen, in dem alle Gäste noch zu schlafen schienen, nirgendwo brannte Licht.
»Danke«, flüsterte Charlotte Zinneck und Rogge zuckte die Achseln.
»Ich wusste nicht mehr ...«
»Wo haben Sie sich denn die ganze Zeit herumgetrieben?«
»In Rollesheim, in einer Pension.«
Neugierig musterte er sie. Sie trug Jeans und eine hellblaue Bluse und beide Stücke sahen so aus, als habe sie mindestens eine Nacht darin geschlafen. An ihren dicken Joggingschuhen klebte Lehm.
»Frieren Sie nicht?«
»Doch«, sagte sie und prompt klapperten ihre Zähne.
»Ich glaube, Sie haben mir viel zu erzählen.«