an der Treppe drehte Rogge sich doch noch einmal um. »Gertrud, Angi hat mehr als einen Liebhaber?«
Gertrud holte tief Luft: »Ja.«
»Hat im vorigen August, September ein Mann - na ja -mehrmals im Bären übernachtet?«
»Nein, nicht übernachtet. Aber mit der Chefin gebumst.«
Womit wahrscheinlich erklärt war, was Eberhard Fuhrmann neben dem Geld, um das er seinen Bruder erleichtert hatte, nach Stockau gezogen hatte; Monika musste es nicht erfahren, und darum wendete Rogge sich endgültig zum Gehen.
Wibbeke war nicht im Revier, fast die gesamte Mannschaft war wegen eines schweren Verkehrsunfalls ausgerückt, ein umgekippter Reisebus, wie der Wachhabende erklärte. Ab und zu dröhnten Rettungshubschrauber so tief über Herlingen, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.
»Sagen Sie Oberkommissar Wibbeke bitte, dass ich ihn sprechen möchte? In der Zwischenzeit ^ehe ich in die Lokalredaktion vom Stockerboten.«
»Alles klar.«
Die Lokalredaktion war in sechs winzigen Räumen untergebracht, alle Verbindungstüren standen weit offen, sonst wäre Rogge wegen klaustrophobischer Attacken sofort geflohen.
Ilse Matussek schmunzelte breit, als Rogge sie danach fragte: »Denkmalschutz, Herr Hauptkommissar. Das war einmal das alte Ständehaus, wir dürfen uns glücklich schätzen und geehrt fühlen, dass uns der Kreis den ganzen ersten Stock vermietet hat.«
Der Rest des Redaktionsteams war draußen, wegen des Busunglücks, sie hielt hier die Stellung. »Der morgige Aufmacher ist also gesichert.«
Ihr Zynismus gefiel Rogge nicht, aber er passte zu ihrem scharfen Gesicht.
»Eigentlich wollte ich mich nur nach einem tödlichen Unfall mit Fahrerflucht erkundigen.«
»Aha.« Sie mochte es nicht, wenn man sich auf Umwegen einer Frage annäherte.
»Ich kenne nur den Namen des Opfers. Martin Lohse. Ein Kind.«
»Moment mal.« So altertümlich die Redaktion untergebracht war, so modern war sie ausgerüstet.
»Hier haben wir es. Soll ich’s Ihnen ausdrucken?«
»Bitte, ja, das wäre sehr nett.«
Der Drucker summte nach kurzer Zeit los, mit drei Blättern in der Hand drehte Ilse Matussek sich schwungvoll wieder Rogge zu, die Bretter knarrten und Rogge fragte nervös, nachdem er die Artikel überflogen hatte: »Hat es eigentlich nie Gerüchte gegeben, wer der Fahrer war?«
»Oho!« Ihre Augenbrauen stiegen in die Höhe. »Rede ich mit einem Privatmann oder mit einem Polizeibeamten im Dienst?«
»Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Ich bin hier nicht zuständig.«
»Na wunderbar. Dann darf ich also Ihre Anfrage zu einem Artikel verwursten?«
»Wenn da drinstehen würde, dass es Hinweise auf die Identität des flüchtigen Fahrer gibt, die jetzt durch Zufall ans Licht gekommen sind - nichts dagegen.«
»Und mehr nicht?«
»Wie ich Sie einschätze, können Sie schon aus der Tatsache, dass ich vor Ihnen sitze, einen Aufmacher schreiben.« Absichtlich hatte Rogge es in seinem trockensten Ton vorgebracht, aber Ilse Matussek besaß ein dickes Fell und entschied selbst, wer sie beleidigte.
»Okay, kapiert, Sie wollen den ehrwürdigen Stockerboten missbrauchen und eine Mine legen.«
»Soll ich aus Prinzip widersprechen?«
»Nein.« Sie lachte kurz. »Sogar bis zu uns hat sich schon herumgesprochen, was mit dem Bärenwirt geschehen ist. Und dass Olli Lohse den Sohn seiner Frau nie leiden mochte, ist bekannt. Es gab sogar böse Gerüchte, dass er ihn selbst überfahren hat, aber natürlich haben wir uns gehütet, das zu schreiben. Verdächtigen Sie Olli?«
»Nein«, erwiderte Rogge bedächtig, »nicht Olli. Der ist viel zu gerissen. Aber Olli hat Freunde und Helfer.«
»Einen Namen wollen Sie mir nicht nennen? Zuflüstern? Unter dem dicksten Siegel größter Verschwiegenheit anvertrauen?«
»Nein. Aber vielleicht sollten Sie mich mit der kryptischen Bemerkung zitieren, dass ich nicht an einen Fahrer von auswärts glaube, der zufällig die Landstraße von Herlingen nach Stockau benutzt hat. Dass ich durch reinen Zufall herausgefunden habe, dass es Frauen gibt oder gegeben hat, die von Martin Lohses Existenz nicht begeistert waren.«
»Dieser Zufall hat sich im Zusammenhang mit den Ereignissen im Bären ergeben?«
Einen Minute prüfte Rogge ihre Miene aufmerksam. Sie konnte giftig, gallig und gehässig sein, aber gerade weil sie das so offen zu erkennen gab, entschloss er sich, ihrer Intelligenz und Korrektheit zu vertrauen.
»Ja«, brummte er deshalb und erhob sich vorsichtig. Trotzdem knarrte das Bodenbrett erschreckend laut. »Vielen Dank, Frau Matussek.«
»Ich würde mich freuen, wenn Sie wieder einmal hereinschauten. Ihre Furcht ist übrigens unbegründet. Mein Chef wiegt an die drei Zentner und das Haus steht immer noch.«
Vor der Zimmertür hielt Rogge unwillkürlich einen Moment inne, diese Wände und Decken bildeten doch kein Rechteck mehr, sondern schon eine Raute, und die Journalistin nutzte ihre Chance: »Sie haben doch nicht wegen Ollis Schiebereien im Bären gewohnt?«
Schmunzelnd drehte er sich um; zuckersüß himmelte sie ihn an und ließ den Bleistift über dem Stenoblock wippen. »Nein. Das war sozusagen ein Abfall-Ergebnis. Ich sollte die Identität der Frau feststellen, die im vorigen September auf dem Parkplatz Feltenwiese gestrandet ist.«
»Und? Hatten Sie Erfolg?«
»Natürlich.« Angesichts Rogges prahlerischem Ton schnaufte sie. »Sie heißt Charlotte.«
»Charlotte und wie weiter?« Ilse Matussek stenographierte ausgesprochen schnell.
»Das erzähle ich Ihnen bei meinem nächsten Besuch.« Vor ihrem Protest hob Rogge lachend beide Hände. »Die Geschichte geht nämlich noch weiter ... Nein, alles andere später.«
Wibbeke verbarg seinen Unmut nicht. Die Szenen, die sich bei dem verunglückten Bus abgespielt hatten, waren ihm an die Nieren gegangen und Rogges Eigenmächtigkeit strapazierte seine Geduld bis zum Äußersten. Nach einem flüchtigen Blick hatte er Rogge die Artikel unwirsch zurückgegeben.
»Alles bekannt.«
»Gertrud behauptet, Olli habe nie erfahren, wer Martins Vater war.«
»Gut möglich.«
»Es war Adalbert Fuhrmann.«
»Was? Der Arzt? Das ist doch Blödsinn!«
»Nein. Angi war seine Patientin, als es passierte, sie hat es Gertrud gestanden, und Gertrud hat keinen Grund, mich zu belügen.«
»Fuhrmann? Mit einer Patientin? War Angi überhaupt volljährig, als sie geschwängert wurde?« Wibbeke hatte Mühe, seine Gedanken von dem Busunglück loszureißen und sich auf Rogge zu konzentrieren.
»Warum nicht? Als Arzt war er besonders leicht verwundbar. Oder erpressbar. Was, Herr Wibbeke, wenn seine Frau eines Tages doch dahinter gekommen ist und Martin, den Sohn, den sie nie hatte, nie bekommen konnte, überfahren hat?«
»Sehr weit hergeholt, Herr Rogge.«
»Dann quartiere ich mich aus einem ganz anderen Grund im Bären ein. Erzähle Gertrud absichtlich, wer ich bin. Die berichtet es Monika Ziegler, die Arzthelferin erzählt es wiederum ihrem Chef und der plaudert es ganz harmlos vor seiner Ehefrau aus.«
»Und die wird nervös, meinen Sie.« Wibbeke verpackte seinen Hohn nur schlecht.
»Möglich, nicht wahr? Warum ist denn sonst auf mich geschossen worden?«
»Moment