Bernd Köstering

Goetheherz


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einer Gegend, in der sie die lokale Sprache beherrschen. Lernt man das noch so auf der Polizeihochschule, Pascal?«

      »Ja«, antwortete Simon.

      »Damit fallen Straßburg, Rom und Marienbad weg. Und wie schon gesagt, an der Selbsttötung von Lotte Schneider existiert kein Zweifel. Also entfällt auch Wetzlar und es bleiben insgesamt nur noch fünf Orte statt neun. Nicht mehr so überzeugend, oder?«

      Hendrik erkannte, dass er Sandra Prager unterschätzt hatte. Vielleicht fühlte sie sich angegriffen wegen des Falls Lotte Schneider. Immerhin hatte er indirekt ihre Fachkompetenz angezweifelt.

      »Und außerdem, Herr Dr. Wilmut«, schaltete sich Germer ein. »Ich habe schon mehrere Serientäter gejagt, zweimal als Leiter einer Soko. Immer gab es einen Modus Operandi, eine einheitliche oder zumindest ähnliche Vorgehensweise des Mörders. Bei unseren aktuellen Fällen haben wir eine breite Palette von Mordmethoden: professioneller Schusswaffengebrauch, heimtückischer Giftmord, profane K.-o.-Tropfen, und – falls wir Straßburg mit dazunehmen – eine Würgetechnik. Erkennt da jemand eine Systematik?«

      »Moment bitte!«, sagte Siggi. »Das ist vielleicht der richtige Zeitpunkt für die vorläufige Tathergangsanalyse, die beantwortet einiges davon.«

      Keiner widersprach.

      »Also, ich habe die mir zur Verfügung gestellten Daten der besagten vier Morde analysiert. Den Fall Lotte Schneider habe ich nicht einbezogen. Der zugrunde gelegte Ermittlungsstand entspricht dem, was wir soeben gehört haben. Die BKA-Checkliste für die Tathergangsanalyse habe ich als Arbeitsgrundlage benutzt. Dabei fand ich keine Übereinstimmung in den folgenden Punkten. Erstens: die Tötungsart. Hier sehe ich sogar ein Gegenargument, denn solch eine Diversifizierung der Tötungsmethoden, wie bereits von Herrn Germer erwähnt, wäre sehr ungewöhnlich für einen einzelnen Täter. Zweitens: der Opferfundort. Zweimal Wohnung, einmal Straße, ein Hafenbecken – keine Struktur erkennbar. Drittens: die Tatzeit. Keinerlei Übereinstimmungen. Weiterhin habe ich geprüft, ob der Täter überfallartig gehandelt hat oder die Opfer vorher kontaktierte, sie angelockt oder sogar mit ihnen Zeit verbracht hat. Dies ist nach dem derzeitigen Wissensstand nicht klar zu beantworten. Im Fall Schmidt hat er nach dem Schuss fluchtartig den Tatort verlassen, im Fall Müller wissen wir darüber nichts, ebenso wenig wie im Fall Meyer. Bei Frau Becker war der Täter im Café, das wir als erweiterten Tatort ansehen können, aber keiner weiß, wann und wie lange. In zwei Fällen ist der Leichenfundort auch der Tatort, in einem Fall nicht, in einem ist es unklar. Ebenso offen ist die Frage der Täter-Opfer-Beziehung, logischerweise, da wir bislang keinen Verdächtigen haben. Die Ermittlungsteams in Frankfurt und Weimar haben keine Beziehung der Opfer untereinander feststellen können. Damit meine ich die konkreten Opfer in der heutigen Welt, unabhängig davon, dass ihre Namensgeber alle Goethes Herzdamen waren.«

      Der Kriminaldirektor lachte.

      »Nun zu den Gemeinsamkeiten. Hier unterscheiden wir zwischen weichen und harten Faktoren. Weiche Faktoren sind meistens Ausschlussfaktoren, so können wir in allen vier Fällen sexuelle Handlungen ausschließen, genauso wie sadistische Umtriebe oder Zurschaustellung der Leiche. Weiterhin können wir ausschließen, dass der Täter Gegenstände vom Tatort – soweit dieser bekannt ist – mitgenommen hat. Das kommt bei Serienmördern vor, teils werden solche Objekte als eine Art Fetisch genutzt. Nun zu den harten Faktoren. In allen vier Fällen hat der Täter versucht, den Mord zu vertuschen. Bei Frau Müller hat er sehr viel Wert darauf gelegt, und wenn wir die Insulinpatrone nicht gefunden hätten, wäre der Mord wohl nie nachweisbar gewesen. Im Fall Schmidt gelang es ihm nicht, die Gewalttat zu vertuschen, mehr durch Zufall, weil das Projektil im Boden feststeckte und nicht in angemessener Zeit von ihm entfernt werden konnte. In Weimar und Straßburg hat er versucht, den Mord als Selbsttötung erscheinen zu lassen und nur durch die professionelle Arbeit der Kollegen ist dies verhindert worden.«

      Täntzer grinste.

      Siggi fuhr fort: »Summa summarum: In allen vier Fällen wurde versucht, den Mord als natürlichen Tod erscheinen zu lassen. Dann zur Viktimisierung.«

      »Entschuldigung«, fragte Hendrik dazwischen. »Was bedeutet Viktimisierung?«

      »Die Opferauswahl. Es wurden nur Frauen ermordet, das ist ein Fakt. Was das Alter der Frauen, ihre körperlichen Merkmale, ihren Beruf und ihr soziales Umfeld betrifft, gibt es keinerlei Übereinstimmungen. Ich habe das genau überprüft. Dann habe ich mich mit den Namen der Opfer beschäftigt. Wie Herr Wilmut schon erläuterte, sind die Vornamen alle identisch mit Namen von Goethes Herzdamen. Was wir daraus schließen, ist noch offen.«

      Hendrik spürte Richards Hand auf seiner Schulter, die ihn herunterdrückte. Ist ja gut, dachte er, ich wollte nichts sagen.

      »Aber die ganze Zeit über hing ich gedanklich an den Nachnamen. Irgendetwas Seltsames haben die.«

      Pascal Simon sah ihn erstaunt an: »Wieso, sind doch ganz normale Namen, Müller, Meyer, Schmidt und so weiter.«

      »Ja«, sagte Siggi, »genau das ist das Auffällige.« Die Anwesenden starrten ihn an. »Schmidt, Müller, Becker, Meyer und eventuell Schneider. Lauter typisch deutsche Namen. Ich habe das recherchiert: Müller ist der häufigste Familienname in Deutschland. Schmidt mit dt ist Nummer zwei, Meyer mit ey die sechs und Becker Platz acht. Falls wir Schneider mit dazunehmen wollen: Nummer drei. Unter den ersten zehn kommen dann noch Fischer, Weber, Wagner, Hoffmann und Schulz.«

      Hendriks Puls ging schlagartig in die Höhe. Guter Mann, der Siggi. Ein Aspekt, der ihm nicht aufgefallen war.

      »Und? Was sollte ein Serienmörder damit bezwecken?«, fragte Prager.

      »Er sucht sich Opfer mit den Vornamen von Goethes Geliebten, der Nachname ist ihm wahrscheinlich egal. Mit diesen Top Ten macht er uns – also, ich meine den ermittelnden Beamten – das Leben schwer. Vielleicht war das seine Absicht.«

      »Okay, das wäre möglich«, sagte Julian Täntzer. »Dann bleibt allerdings noch eine wichtige Frage.«

      »Nämlich?«, hakte Sandra Prager nach.

      »Selbst wenn wir von der Hypothese einer Mordserie ausgehen, wo ist das Motiv?«

      »Hm, gute Frage«, sagte sie. »Dr. Wilmut?«

      Hendrik spürte wieder dieses »Etwas«, das er schon bei der Recherche zu Elisabeth Müller wahrgenommen hatte. Diesmal kam es gewaltig auf ihn zu. »Keine Ahnung, das ist ja wohl Ihre Aufgabe!«

      Kriminaldirektor Germer stand auf. »Herr Dr. Wilmut, wenn ich von Ihrer Hypothese überzeugt wäre, könnte das möglicherweise unsere Aufgabe sein. Für mich ist das aber viel zu dünn. Und Sie sind sicher nicht derjenige, der uns sagt, was wir zu tun haben. Täntzer, Sie kümmern sich weiter um den Fall Becker und alles andere ist Sache von Frau Prager beziehungsweise Herrn Volk. Wir sind draußen.«

      Sandra Prager erhob sich ebenfalls. »Ich bin auch draußen.«

      Hendrik konnte es kaum glauben. Er sah Richard an.

      »Sorry, Hendrik, aber ich verstehe die Kollegen. Und wir haben mit den beiden Morden in Frankfurt und Offenbach genug zu tun. Falls sich Hinweise auf einen Serientäter ergeben sollten, müssen wir die Lage neu bewerten.«

      Hendrik sprang auf, eine riesige Wut ballte sich in seinem Bauch zusammen. »So, du lässt mich also im Stich!«

      »Hendrik!«, rief Siggi.

      »Ich werde euch allen jetzt mal was sagen: Wenn der nächste Mord passiert, ist es eure Schuld! Ich bin nicht der Sündenbock, ist das klar!«

      »Herr Wilmut, bitte beruhigen Sie sich!«, mahnte Sandra Prager.

      »Nein, Frau Prager, ich beruhige mich nicht. Ich habe keine verdammte Ahnung, wer der Mörder ist und warum er unschuldige Frauen umbringt! Sicher ist: Er wird es wieder tun, und zwar bald. Und dann haben Sie«, er stocherte mit dem Zeigefinger mehrmals in ihre Richtung, »den Tod eines Menschen zu verantworten!«

      Sandra Prager kam langsam auf ihn zu. »Raus hier, Mann, aber schnell!«

      *

      Sonntag

      Es