Bernd Köstering

Goetheherz


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Herr Wilmut?«

      »Ach so, ja, Dr. Hendrik Wilmut, Literaturdozent an der Universität Frankfurt, Forschungsgebiet Johann Wolfgang von Goethe, sein Leben und seine Frauen.«

      Die Blicke aus der Runde gaben ihm zu verstehen, dass er wohl etwas übertrieben hatte. Vielleicht hätte er das mit den Frauen weglassen sollen. Zu spät, die Worte hatten seinen Mund verlassen und er konnte sie nicht mehr zurückholen.

      »Danke, Herr Dr. Wilmut. Julian?«

      Der junge Mann neben Hendrik spielte nervös mit seinem Kugelschreiber. »Kriminalkommissar Julian Täntzer. Seit acht Jahren im Polizeidienst, seit zwei Jahren in der Kriminalpolizeistation Weimar.«

      Hendrik konnte sich nicht dagegen wehren, Täntzer mit dem Begriff »Milchgesicht« zu assoziieren.

      Siggi übernahm direkt. »Siegfried Dorst, pensionierter Kriminalhauptkommissar aus Weimar. Richard Volk und ich kennen uns schon lange und haben mehrere Fälle zusammen bearbeitet. Wegen der Personalknappheit in seiner Abteilung und der Hypothese einer Mordserie hat er mich gebeten, eine vorläufige Tathergangsanalyse zu erstellen.«

      Richard hob kurz die Hand. »Ich darf ergänzen, dass Siegfried Dorst früher beim BKA gearbeitet hat und am Aufbau der Abteilung ›Operative Fallanalyse‹ beteiligt war.«

      Der etwa 60-jährige Mann neben Siggi nickte anerkennend. Er hatte eine hohe Stirn und trug eine übergroße Tellerbrille. »Ich bin Hans Germer und leite die Kriminalpolizeiinspektion Jena.«

      »Danke, Herr Kriminaldirektor«, sagte Sandra Prager. »Pascal?«

      »KK Pascal Simon, 29 Jahre alt, ich arbeite in Frankfurt im K11 für Herrn Volk.«

      »Gut, danke, dort drüben steht Kaffee, bitte bedienen Sie sich. Die Toiletten befinden sich links den Gang hinunter. Haben Sie Fragen zur Organisation?«

      Alle schüttelten den Kopf, und Sandra Prager sprach weiter: »Wir haben aktuell fünf Todesfälle, die bisher unabhängig voneinander bearbeitet werden. Vier davon sind inzwischen zu Mordfällen erklärt worden, einer wurde als Selbsttötung eingeordnet.«

      Hendrik hob die Hand. »Aber …«

      »Langsam, Herr Dr. Wilmut, Sie bekommen noch genügend Gelegenheit, Ihre Sicht der Dinge zu erläutern. Erst einmal wollen wir uns alle auf einen gemeinsamen Wissensstand bringen.«

      »Äh, ja, natürlich!« Hendrik atmete tief durch. Er musste seine Emotionen im Zaum halten.

      »Richard … also KHK Volk hat die Hypothese entwickelt, dass die fünf Fälle miteinander verknüpft sein könnten. Dazu später mehr. Zunächst wird der jeweils zuständige Ermittler seinen Fall vorstellen. Julian … Kollege Täntzer, fängst du bitte an?«

      »Gern.« Julian Täntzer öffnete eine Akte und begann, vorzulesen. Sein Gesicht hatte den letzten Rest Farbe verloren. »Wilhelmine Gertrude Becker, 77 Jahre alt, geschieden, drei Kinder, vier Enkelkinder, wohnhaft in Jena, Talstraße 122. Sie befuhr mit ihrem PKW Modell Škoda Fabia am Mittwoch, 8. Oktober gegen 10.45 Uhr die B 7 stadtauswärts in Richtung Isserstedt. In einem Waldstück, dem Isserstedter Holz, kam sie in der Nähe der sogenannten … Zigeunerquelle – sorry, das Ding heißt nun mal so – rechts von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Sie verstarb an der Unfallstelle. Da es sich um eine kerzengerade Strecke handelt und keinerlei Bremsspuren zu erkennen waren, übernahmen wir die Ermittlungen.« Er sah in die Runde.

      »Wie waren die Straßenverhältnisse?«, fragte Sandra Prager.

      »Trocken, nur wenig Laub, nichts Auffälliges.«

      »In welche Himmelsrichtung fuhr sie?«, fragte Pascal Simon.

      »In Richtung Westen. Blendende Sonne können wir also ausschließen. Außerdem sind die Bäume dort noch stark belaubt und bilden ein Blätterdach.«

      Simon nickte.

      Täntzer setzte seinen Bericht fort: »Die Obduktion ergab keine Verletzungen, die ihr vor dem Unfall zugefügt worden sein könnten. Die Blutprobe ergab jedoch interessante Ergebnisse: kein Blutalkohol, keine Drogen, jedoch eine mittlere Konzentration an Temazepam. Wir gehen davon aus, dass Frau Becker die K.-o.-Tropfen kurz vor ihrer Fahrt in ein Getränk gemischt wurden, wodurch sie dann die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlor. Von ihrem Ex-Mann erhielten wir die Telefonnummer ihrer besten Freundin. Sie hatte Frau Becker am Tag ihres Todes nicht getroffen, nannte uns aber ihr Stammcafé. Die Befragung des Personals ergab, dass Frau Becker direkt vor dem Unfall in eben diesem Café war, und zwar allein. Laut Aussage der Bedienung war sie zwischendurch auf der Toilette. Vermutlich hat ihr währenddessen jemand die K.-o.-Tropfen ins Getränk gemischt, die übliche Vorgehensweise. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg nach Isserstedt, um im dortigen Handelshof einzukaufen. Laut ihrer Freundin fuhr sie dort regelmäßig hin.«

      »Wer wusste denn, dass sie sich vor ihrem Tod in diesem Café aufgehalten hat?«

      »Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand niemand.«

      »Dann muss ihr jemand gefolgt sein«, stellte Richard fest.

      »Ja, so sehen wir das auch. Wir haben das Videomaterial von zwei benachbarten Geschäften ausgewertet, ohne Erfolg. Nun die üblichen Fragen: Motiv? Gelegenheit? Mittel? Wir haben alles geprüft, es gibt keinen Verdächtigen. Frau Becker ist geschieden. Ihr Ex-Mann hat vor rund 20 Jahren die Scheidung eingereicht, weil sie damals einen Liebhaber hatte, der wiederum inzwischen verstorben ist. Herr Becker hat kein erkennbares Motiv und ein wasserdichtes Alibi, er war letzte Woche im Urlaub auf Gran Canaria und kam erst am vergangenen Sonntag zurück. Er hat seine geschiedene Frau zuletzt vor einem Jahr gesehen. Ihre beste Freundin arbeitet in Teilzeit als PTA in einer Jenaer Apotheke, daraus könnte man eine gewisse Verbindung zum Temazepam konstruieren, allerdings ist das Zeug ja leider rezeptfrei erhältlich. Sie hätte also die Mittel gehabt, hat aber kein Motiv, und sie war zur Tatzeit in der Apotheke. Drei Kolleginnen können das bezeugen.«

      »Danke, Julian. Richard, machst du weiter?«

      »Okay.« Volk erläuterte alle Fakten der Fälle Marianne Schmidt und Elisabeth Müller, die Hendrik bereits kannte. Zudem bedankte er sich für den Wochenendeinsatz von Dr. Bergen. Es gab verschiedene Nachfragen zum genauen Verlauf des Schusskanals bei Frau Schmidt und zu der Insulinpatrone in der Wohnung von Frau Müller.

      »Zum Thema Insulin habe ich mit Dr. Bergen telefoniert«, sagte Richard. »Er hat mir die Wirksamkeit bestätigt und hält diese Tötungsvariante in Anbetracht seiner Obduktionsergebnisse für realistisch. Da die Tochter von Frau Müller erklärte, dass weder sie noch ihre Mutter je mit Diabeteskranken oder deren Medikamenten in Berührung gekommen seien und sie solch eine Nachfüllpatrone für den Insulinpen nie zuvor gesehen habe, spricht dies eindeutig für eine Fremdeinwirkung.«

      Kriminaldirektor Germer räusperte sich. »Und wenn eine Pflegekraft beim Besuch von Frau Müller diese Patrone verloren hat?«

      Richard wiegte seinen Kopf hin und her. »Daran haben wir auch schon gedacht. Frau Müller war 68 Jahre alt, noch recht fit, sie hatte keinen Pflegegrad und keine Hauspflege. Außerdem hätte die Patrone dann eher im allgemein zugänglichen Bereich liegen müssen, auf dem Teppich zum Beispiel.«

      »Okay«, brummte der Mann mit der Tellerbrille.

      »Als Nächstes haben wir den Fall in Straßburg, den erläutert Ihnen mein Mitarbeiter Kommissar Simon.« Richard gab Pascal ein Zeichen.

      »Es handelt sich hier um die 52-jährige Friederike Geraldine Meyer, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in Straßburg, Ortsteil Cronenbourg, so wie das Bier, aber mit C geschrieben. Die Brauerei hatte früher tatsächlich ihren Sitz …«

      »Pascal!« Richards Ton war eindeutig.

      »Ja, Chef, sorry.« Er beugte sich über seine Papiere. »Frau Meyer wurde am Montag letzter Woche, also am 6. Oktober, im Bassin du Commerce gefunden, das ist eines der großen Becken im Straßburger Rheinhafen. Ich habe mir den Untersuchungsbericht der Kollegen von der Police national schicken lassen.«

      »Er kann gut Französisch«, ergänzte Richard.