Bernd Köstering

Goetheherz


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verstohlen um. »Langsam, Täntzer, lassen Sie uns in Ihr Büro gehen, es muss ja nicht jeder wissen, dass ein pensionierter Polizeibeamter Sie unterstützt!«

      »Das ist mir egal, aber gut, kommen Sie rein. Kaffee?«

      »Ja, gerne.«

      Täntzer schloss die Tür hinter ihnen und riss die Kanne so heftig aus der Kaffeemaschine, dass die braune Brühe auf den Teppich schwappte. Er verteilte den Fleck großzügig mit seinem Schuh, goss beiden ein und setzte sich.

      »Da, schauen Sie!«

      Siegfried Dorsts Augen flogen über den Bericht. »Das heißt, im Labor wurde nur der Alkoholgehalt im Blut bestimmt?«

      »Nein, auch Aufputschmittel, die üblichen Substanzen, auf der Rückseite.«

      Dorst drehte das Blatt um. Kein Nachweis von auffälligen Substanzen im Blut von Wilhelmine Becker.

      »Sie brauchen noch einen Test auf Benzodiazepine.«

      Täntzer hob den Kopf. »K.-o.-Tropfen?«

      »Genau. Und Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken. Beides könnte zum Unfallhergang passen.«

      »Stimmt, aber mehr hat er nicht freigegeben.«

      »Der Herr Kriminaldirektor?«

      »Ja. Germer sitzt in seinem Büro in Jena, ich soll hier die Arbeit machen und er wirft mir Äste zwischen die Beine oder wie das heißt.«

      Dorst lächelte. »Sie meinen ›Knüppel‹. Ruhig Blut, Täntzer. Warum ermitteln Sie eigentlich von Weimar aus und nicht Ihre Kollegen in Jena?«

      »Die Kollegen dort arbeiten gerade an einem anderen Fall, der laut Germer höchste Priorität hat. Außerdem meint er, ich könne noch etwas Erfahrung sammeln. Wie er das gesagt hat, so … abschätzig.«

      »Ich denke, das ist tatsächlich eine gute Gelegenheit, Erfahrung zu sammeln, vor allem, wenn Sie die Ermittlungen leiten. Egal, wie Germer es sieht, und egal, wie er sich ausdrückt. Betrachten Sie es als Chance!«

      »Na gut. Wahrscheinlich haben Sie recht. Wegen der Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken können, werde ich Frau Beckers Hausarzt fragen. Dann wüssten wir zumindest, ob sie solche Präparate regelmäßig eingenommen hat. Eine Überdosierung käme ja auch infrage.«

      »Gut so!«

      »Nur wegen der K.-o.-Tropfen …« Täntzer zögerte. »Ich weiß nicht …«

      »Welches Labor?«

      »Das in der Uniklinik Jena, wie immer.«

      »Okay, ich kümmere mich darum.«

      »Was meinen Sie damit, Herr Dorst?«

      »Das sollten Sie besser gar nicht wissen, Täntzer. Ich melde mich wieder!«

      *

      Spurensuche

      Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, vormittags

      Etwa zur gleichen Zeit betraten Richard Volk und Pascal Simon zum zweiten Mal die Wohnung von Marianne Hermine Schmidt im Frankfurter Stadtteil Oberrad. Hinter ihnen lauerten zwei Kollegen von der KTU. Alle vier hatten nur eine Aufgabe: das Projektil zu finden, das Marianne Schmidts Kopf durchschlagen hatte. Gemäß der Rekonstruktion des Tathergangs konzentrierten sie sich auf die Couch und die Wand dahinter. Zwei Kollegen nahmen das Sitzmöbel auseinander, die anderen beiden suchten die Wand zentimeterweise mit einem Metalldetektor ab. Richard überließ es Simon, auf dem Boden herumzukriechen. Dessen Jeans sah sowieso aus, als sei sie vor 20 Jahren aus der Altkleidersammlung gerettet worden.

      Inzwischen wussten sie, dass die Flurnachbarin tatsächlich Frau Schmidts Wohnungstür gehört hatte. Richard hatte sie noch einmal befragt, ihre Aussage war glaubhaft. Außerdem war mittlerweile klar, dass Frau Schmidt um die Mittagszeit erschossen worden war, da sie das Mittagessen bereits im Magen hatte und die Mahlzeit immer pünktlich um 12 Uhr zu sich nahm. Der Türknall konnte auf 12.25 Uhr festgelegt werden, denn die Flurnachbarin hatte zu dieser Zeit ein Telefonat ihres Sohnes angenommen, das sie daran gehindert hatte, hinaus ins Treppenhaus zu gehen oder zumindest durch den Türspion zu schauen. Den Beginn des Gesprächs konnte Richard Volk der Anrufliste ihres Telefons entnehmen. Wenn man annahm, dass Frau Schmidt etwa 15 Minuten zum Mittagessen gebraucht hatte, war somit klar, dass der Todesschuss zwischen 12.15 Uhr und 12.25 Uhr erfolgt sein musste. Dem Attentäter waren also nur rund zehn Minuten geblieben, der bedauernswerten Frau Schmidt ein Stück Holz zwischen die Zähne zu schieben, einen exakten Schuss auszuführen und mit einem wahrscheinlich nicht beabsichtigten Türknall wieder zu verschwinden. Damit hatte er kaum Zeit gehabt, das Projektil zu suchen, was die Chancen der Polizisten erhöhte, selbiges zu finden.

      Es dauerte fast eine Stunde, bis sie Erfolg hatten. Das Einschussloch befand sich nicht in der Wand, sondern im Bodenbelag vor der Wand. Um nicht zu lange am Tatort zu verweilen, hatte der Täter sich offensichtlich entschieden, es nicht herauszuholen, und stattdessen eine Bodenvase auf die Öffnung gestellt. Richard schüttelte den Kopf. Nicht mit uns! Natürlich fehlte ihnen noch die Tatwaffe, aber sobald sie sie gefunden hatten, konnte über die jedem Lauf eigenen Kratzspurenmuster ein gerichtsverwertbarer Zusammenhang mit diesem Projektil hergestellt werden. Richard Volk ging in die Hocke und strich mit den Fingern über den Bodenbelag. Er nickte und stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, dass es sich um einen modernen Vinylboden handelte, der weicher war als Parkett oder Laminat. Dies war wichtig, denn das Eindringen des Projektils in Holz hätte möglicherweise die spezifischen Kratzspurenmuster durch Fremdspuren verfälscht. Eine Hülse entdeckten sie nicht, die hatte der Mörder offensichtlich mitgenommen.

      Während die beiden KTU-Kollegen begannen, vorsichtig den Vinylboden zu öffnen, gab Richard Volk seinem Jungkommissar einen Wink und sie verließen gemeinsam die Wohnung.

      Im Wagen sitzend führte Richard ein Telefonat, in dem er nach dem Hausarzt des Offenbacher Opfers, Elisabeth Müller, fragte. Nach mehreren »Hm« und »Ja« und »Okay« legte er auf.

      »Wer war das?«, fragte Pascal Simon.

      »Ein alter Kumpel«, antwortete Volk. »Wir fahren nach Offenbach.«

      »Was? Nach Offenbach? Ist das Ihr Ernst?«

      »Ich weiß, dürfen wir eigentlich nicht. Aber ehrlich, diese ewigen Revierstreitigkeiten gehen mir total auf den Senkel. Auf geht’s! Dr. Volker Rosennadel, Arzt für Allgemeinmedizin in Offenbach-Bürgel.«

      Sie konnten den Doktor nicht sofort sprechen, weil das Wartezimmer voll war mit Grippepatienten. Die Arzthelferin, per Namensschild als Auszubildende gekennzeichnet, unterhielt sich nur mit Pascal Simon, wobei sie krampfhaft versuchte, ihre Sympathie für ihn zu unterdrücken. Das misslang gehörig und Volk konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. War das schön, jung zu sein! Endlich gelang es Simon, sich loszueisen. Er gab der Arzthelferin seine Visitenkarte und bat sie, anzurufen, sobald Dr. Rosennadel Zeit für ihn hatte. Für »ihn« – Richard ließ es geschehen. Die beiden Polizisten gingen in ein Stehcafé auf der anderen Straßenseite und bestellten zwei Tassen Kaffee, eine Nussecke und ein Stück Sachertorte. Richard war ein absoluter Fan dieser Torte und ordnete die Offenbacher Stehcafé-Version auf einer Skala von 1 bis 5 bei 4 ein. Er brummte zufrieden vor sich hin, während er sich die Süßspeise auf der Zunge zergehen ließ. Pascal erzählte derweil vom Training in seinem Schwimmclub, was Richard Volk mit hochachtungsvollem Nicken quittierte, denn er selbst hatte die Sportprüfungen bei der Polizei immer nur mühsam bestanden. Zudem hatte er seine Restsportlichkeit inzwischen zugunsten der bewussten Kulinarik abgelegt. Für eine halbe Stunde entkoppelte er seine Gedanken von den beruflichen Notwendigkeiten.

      Endlich klingelte Simons Telefon. Sie gingen hinüber in die Praxis, Richards junger Kollege erzeugte bei der Azubine erneut ein Hollywoodlächeln, bevor er seinem Chef ins Sprechzimmer von Dr. Rosennadel folgte. Der Arzt war sichtlich geschockt, als er von Elisabeth Müllers Tod erfuhr. 68 Jahre sei ja kein hohes Alter heutzutage, meinte er. Und eins wolle er festhalten: Er habe auf keinen Fall einen Fehler gemacht, der womöglich zum Tod von Frau Müller geführt haben könnte. Dann zählte er eine Menge Argumente auf, um