beim Rasenmähen, beim Bohren oder eben beim Zähneputzen lösten und zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führten.
»Todeszeitpunkt?«, fragte er den Arzt, der bereits dabei war, seine Sachen einzupacken.
»Noch nicht lange her. 12 Uhr plus/minus eine Stunde.«
Volk sah auf. »Sicher?«
»Sicher!«
»Sind Sie Gerichtsmediziner?«
»Nein, aber Pathologe.«
Richard nickte ihm zu. Ein Zeitfenster von 11 bis 13 Uhr passte nicht zu der Zahnbürste. Ein Todeszeitpunkt in den Morgenstunden wäre logischer gewesen. Es sei denn, Frau Schmidt hatte sich auch nach dem Mittagessen die Zähne geputzt – möglich, aber unwahrscheinlich.
»Keinerlei Anzeichen für einen gewaltsamen Tod«, sagte der Arzt.
»Okay, danke!«
Wieder eine Frau in den 60ern. Wieder zu früh verstorben.
Pascal Simon riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Flurnachbarin hat ausgesagt, dass sie gegen 12.30 Uhr eine Wohnungstür gehört hat, sehr wahrscheinlich die von Frau Schmidt.«
»Sehr wahrscheinlich? Was heißt das?«
»Sie war sich ziemlich sicher. Die beiden kennen sich und ihre Wohnungstüren.«
»Gut, Sie warten auf die Kollegen von der Kriminaltechnik, die sollen nach Fingerspuren auf der Zahnbürste suchen!«
»Auf der Zahnbürste?«
»Ja, wir müssen davon ausgehen, dass …« Sein Mobiltelefon klingelte. Er nahm ab.
»Hier ist Dr. Bergen, Uni Gießen, Rechtsmedizin.«
»Ach, gut, einen Moment bitte …«
Volk gab Simon ein Zeichen, verließ die Wohnung und ging ins Treppenhaus. Das Gespräch dauerte nicht lange. Dr. Bergen war sehr hilfsbereit. Auch die Nachricht, dass es sich inzwischen um die Obduktion von zwei Frauenleichen handelte, schockierte ihn nicht. Richard Volk konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass zwischen Almuth Feller und Dr. Bergen eine besonders gute Beziehung bestand. Er lächelte. Dann rief er Pascal Simon zu, dass er dringend zum Oberstaatsanwalt müsse, und verabschiedete sich.
*
Sebastian Bergen
Gießen, Samstag, den 11. Oktober, morgens
Dr. Sebastian Bergen war ein Mann, den man im modernen Sprachgebrauch durchaus als smarten Typ bezeichnen konnte: 38 Jahre alt, 1,90 Meter groß, dunkles, wild fallendes Haar, kein übermäßig präsenter Vollbart, sportliche Erscheinung. So weit alles in Ordnung. Aber wenn er einer Frau erklärte, dass er in der Rechtsmedizin arbeitete, und die Frage, ob er »Leichen aufschnitt«, bejahte, dann war es meistens vorbei mit dem Interesse. Einmal hatte er sich selbst als »Aufschneider« bezeichnet, in der Meinung, das sei lustig. Die entsprechende Dame hatte jedoch nicht gelacht, sondern sich verabschiedet.
Bei Almuth Feller war das anders gewesen. Sie war einige Jahre älter als er, erfahren und abgeklärt. Ihr auffallend schönes, gewinnendes Lächeln faszinierte ihn. Und als Krönung dieses Lächelns präsentierte sie ihre makellos geformten weißen Zähne. Zudem hatte sie selbst in der Rechtsmedizin gearbeitet, zwar im Verwaltungsbereich, dennoch waren alle Vorgänge im Institut für sie alltäglich gewesen, und sie hatte sich nicht gescheut, ihn ab und zu im Sektionssaal zu besuchen. Leider hatte sie vor einem halben Jahr Gießen verlassen, um ihre kranken Eltern in Kelsterbach zu pflegen. An der Universität Frankfurt hatte sie eine Halbtagsstelle gefunden. Obwohl die Entfernung nicht allzu groß war, hatte sich ihre Beziehung seitdem abgekühlt, sie sahen sich nur noch selten.
Für Dr. Sebastian Bergen bestand kein Zweifel, dass er Almuth den Gefallen tun würde, die beiden toten Frauen zu obduzieren. Voraussetzung war, dass er dies am Wochenende erledigte, wenn der Sektionssaal nicht belegt war. Nachdem Dr. Bergen die Freigabe seines Institutschefs erhalten hatte, teilte er die Entscheidung dem ermittelnden Beamten, Kriminalhauptkommissar Richard Volk, mit. Volk wiederum hatte den Frankfurter Oberstaatsanwalt von einer Obduktion überzeugt, ohne Bergen mitzuteilen, wie ihm das gelungen war. Der Oberstaatsanwalt hatte sich daraufhin mit der Offenbacher Staatsanwaltschaft verständigt, auch die Leiche von Elisabeth Müller zur Obduktion freizugeben. Danach hatte der Hauptkommissar eine ausführliche E-Mail an Dr. Bergen geschrieben. Darin enthalten waren die Informationen zum aktuellen Ermittlungsstand der Kriminalpolizei, insbesondere zur jeweiligen Auffindesituation der Toten. Angehängt waren die Totenscheine des Frankfurter Pathologen und des Offenbacher Allgemeinmediziners sowie die Ergebnisse der Blutuntersuchungen.
Es war 7 Uhr am Samstagmorgen, als Dr. Bergen mit der Obduktion von Marianne Schmidt begann. Er hatte sich einen jungen, wissbegierigen Kollegen dazugeholt, denn eine Obduktion musste – sollte sie als gerichtsverwertbar gelten – von zwei Rechtsmedizinern durchgeführt werden. Zunächst untersuchte Bergen die Hautoberfläche des Leichnams ausführlich Zentimeter für Zentimeter. Sein Tablet lag neben ihm, er diktierte alle Befunde direkt in das Spracherkennungsprogramm. So weit keine Unregelmäßigkeiten, keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod. Dann öffnete er den Mundraum des Leichnams. Dort steckte etwas zwischen den Zähnen: ein Fremdkörper. Dr. Bergen nahm eine Pinzette, justierte seine Arbeitslampe und griff nach dem unbekannten Gegenstand: ein dünner Holzspan, etwa drei Zentimeter lang. Er legte das Fundstück auf einen Objektträger und betrachtete es unter dem Mikroskop. Helles Holz, Buche, Eiche oder Ähnliches, keine Besonderheiten. Doch was machte ein Stück Holz im Mundraum der Frau?
Nach einer kurzen Diskussion mit seinem Kollegen entschied er, den Leichnam ins Röntgenlabor zu fahren. Gern hätte er eine CT-Aufnahme ihres Kopfes gehabt, um sich das Innere schichtweise anzusehen. Das konnten sie jedoch nur mit einer MTA bewerkstelligen und den Wochenenddienst wollte Bergen nicht dafür beanspruchen. Als er die Röntgenaufnahme am Schaukasten befestigte, glaubte er zunächst, seinen Augen nicht zu trauen. Seinem jungen Kollegen schien es ebenso zu gehen. Vom Genick aus zog sich ein dünner Strich quer durch den Kopf bis hin zum Mund. Sie untersuchten erneut die Haut am Hinterkopf, dann wussten sie, wie Marianne Schmidt ums Leben gekommen war. Schon war Dr. Bergen versucht, zum Telefon zu greifen, doch schnell erinnerte er sich selbst daran, die Obduktion vorschriftsgemäß abzuschließen, bevor er sich ein Urteil erlaubte. Er öffnete den Körper, entnahm der Reihe nach alle inneren Organe, sein Kollege wog sie, begutachtete sie und legte sie zurück in den Leichnam. Die Ergebnisse dokumentierte Bergen über seinen Tablet-Computer. Zwei Stunden später griff er zum Telefon.
»Bergen hier, guten Morgen, Herr Volk!«
»Doktor, so früh schon? Wann haben Sie denn angefangen?«
»Um 7 Uhr, für zwei Obduktionen braucht man schon mal den ganzen Tag. Und zur Sportschau möchte ich zu Hause sein.«
»Klar«, sagte Volk. »Ich danke Ihnen. Und?«
»Den ersten Situs habe ich obduziert, Frau Marianne Schmidt. Sie wurde erschossen.«
»Waaas? Sicher?«
»Ganz sicher. Sie wurde durch einen Genickschuss getötet, schwer zu erkennen, schon gar nicht am Tatort. Der Schuss wurde im Genick angesetzt, direkt am Haaransatz, ich habe es bei der äußerlichen Inspektion selbst erst nicht bemerkt. Laut Schusskanal, den ich im Röntgenbild sehe, ist das Projektil durch den Mund wieder ausgetreten. Falls das Absicht war, muss es ein Profi gewesen sein.«
»Puh!«
»Den Durchmesser des Schusskanals konnte ich nicht exakt bestimmen, dazu bräuchte ich ein CT, wahrscheinlich Kaliber .22.«
»Aha. Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Sebastian Bergen schüttelte den Kopf, obwohl Volk das nicht sehen konnte. »Nein, nach fast zwei Tagen ist das nicht mehr möglich, da sollten wir den Kollegen vertrauen, die vor Ort waren. Aber ich habe den Mageninhalt untersucht, Rindfleisch, Kartoffeln und Erbsen.«
»Sie hat also zu Mittag gegessen?«
»Genau.«
»Verdammt, dann hat der Mörder ihr die Zahnbürste