Backenzähnen linksseitig fand ich einen schmalen Holzspan, Buchenholz, etwa drei Zentimeter lang. Was das zu bedeuten hat, kann ich nicht sagen.«
Stille. Bergen wartete. »Herr Volk?«
»Ja, ich bin noch da. Wissen Sie, ich habe eine … Theorie. Der Täter hat ihr vor dem Schuss ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt, um mehr Platz für den Austritt des Projektils zu haben. Damit wurde eine sofort erkennbare Austrittswunde vermieden und die Wahrscheinlichkeit, eine Fremdeinwirkung zu entdecken, stark reduziert.«
»Klingt plausibel.«
»Das heißt, wir müssen am Tatort nach dem Projektil suchen, das muss ja irgendwo eingeschlagen sein. Bisher sind wir ja von einem natürlichen Tod ausgegangen.«
»Ich sehe, nicht nur der Täter ist ein Profi, sondern auch der Ermittler!«
Richard Volks Lachen klang durch die Leitung. »Danke. Sie melden sich bitte, wenn Sie mit Elisabeth Müller so weit sind?«
»Klar. Ach, eine Frage noch: Wie haben Sie den Oberstaatsanwalt eigentlich davon überzeugt, einer Obduktion zuzustimmen?«
»Ich habe ihn gefragt, ob er bei Prostatabeschwerden zu einem Orthopäden gehen würde.«
Dr. Bergen brummte zufrieden und legte auf.
*
Wilhelmine Becker
Frankfurt a. M., Samstag, den 11. Oktober, nachmittags
Die Herbstsonne hatte erstaunlich viel Kraft und brannte auf den Main und das Ausflugsschiff »Johann Wolfgang von Goethe« nieder. Hendrik Wilmut vermisste eine Kopfbedeckung. Siegfried Dorst, von seinen Freunden Siggi genannt, schien es ähnlich zu gehen. Er hatte besonders zu leiden, da er die Haare als natürlichen Sonnenschutz komplett verloren hatte. Seine glänzende Kopfhaut war empfindlich gegen zu viel UV-Strahlung. Er hatte sich so gesetzt, dass Richard Volks breiter Körper ihm Schatten spendete. Richard war der einzige der drei Freunde, der vorgesorgt hatte. Er trug eine Baseballkappe.
Sie waren am Eisernen Steg an Bord gegangen und fuhren Richtung Westen. Hendrik und Richard als Frankfurter Lokalmatadoren hatten Siggi überredet, einen »Sauer Gespritzten« zu probieren, Apfelwein mit Sprudelwasser. Siggi sah damit nicht glücklich aus. Gerade hatten sie den Westhafen passiert, der kein Hafen mehr war, sondern ein Wohngebiet für Gutbetuchte.
»Jungs, ich muss mich entschuldigen!«, sagte Hendrik. »Ich dachte, Hanna wäre schon so weit, aber …«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen«, antwortete Siggi. »Hannas Gesundheit geht vor. Wahrscheinlich weiß keiner von uns wirklich, wie sie sich fühlt. Ich hatte trotzdem Lust auf ein Bier mit euch beiden Chaoten!«
Das ist Freundschaft, dachte Hendrik.
»Ich soll euch übrigens von Ella grüßen«, ergänzte Siggi. »Sie hatte eine anstrengende Arbeitswoche, deswegen ist sie in Weimar geblieben. Ich als Rentner habe es da einfacher.« Er grinste. »Außerdem meinte sie, wir sollten mal einen richtigen Männerabend machen.«
»Tolles Mädel!«, sagte Richard.
»Und hier ist ein Geschenk für Hanna.« Siggi überreichte Hendrik eine Pralinenschachtel.
»Vielen Dank!«
»Ella bat mich, zu fragen, wie es Hanna geht, sie hat ein paarmal versucht, sie anzurufen …«
»Derzeit geht sie nicht ans Telefon«, sagte Hendrik. »Sie hat gestern gemeint, dass es wohl besser sei, mit ihren Mitmenschen nicht über die Zeit vor ihrem Winterschlaf zu sprechen, sondern nur über die Zeit danach. So oder so ähnlich hat sie es ausgedrückt.«
»Meint sie damit auch ihre Freunde?«, fragte Richard. »Also uns?«
»Ja, ich denke schon. Ich vermute, damit möchte sie vermeiden, sich an die Zeit davor zu erinnern. Besser gesagt, ihr Hirn möchte das oder ihr Unterbewusstsein. Ich denke nicht, dass sie das willentlich steuern kann.«
»Gilt das genauso für dich?«, fragte Siggi.
Hendrik hielt sich die Hand über die Stirn, um die Sonne abzuschirmen. »Ich fürchte, ja.«
»Macht es das nicht einfacher?«
»Ja, Siggi, momentan schon. Irgendwann werde ich allerdings mit ihr über die Ereignisse des 13. September reden müssen.«
»Stimmt«, sagte Richard. »Aber wie schon gesagt: Lass ihr Zeit!«
»Ja, du hast recht. Immerhin isst sie inzwischen zweimal am Tag ein paar Löffel Hühnersuppe. Sie hat total abgenommen. Keine empfehlenswerte Diät.«
An der Backbordseite entschwanden gerade die Unikliniken, auf der Steuerbordseite erschien das alte Druckwasserwerk im Gutleutviertel, inzwischen eine angesagte Eventlokalität.
»Ich wollte übrigens auch Eddie einladen zu unserer Schiffstour«, sagte Hendrik. »Aber er befindet sich derzeit in Marokko.«
Richard legte seine Stirn in Falten. »Was macht er denn in Marokko?«
»Hochzeitsreise mit Karla!«
»Ach, wunderbar!«, sagte Richard. »Ich freu mich für die beiden. Letztes Jahr in München hat er ein Riesenglück gehabt, dass Nadine Moder ihn mit den beiden Schüssen verfehlt hat.«
Hendrik nickte.
Unvermittelt wechselte Siggi das Thema: »Mal was anderes, Richard, du hast am Telefon zwei tote Frauen erwähnt.«
Hendrik erschrak. »Was …? Zwei Tote schon?«
»Ja, allerdings wollte ich heute eigentlich nicht mehr über dienstliche Dinge reden, habe nämlich den ganzen Vormittag gearbeitet.«
Siggi legte den Kopf nach links, dann nach rechts. »Sorry, ich wollte dich eigentlich nicht damit behelligen …«
»Mit was?«
»In Jena ist vergangenen Mittwoch eine 77-jährige Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«
»Okay, nicht schön, aber was hat das mit mir zu tun?« Richards Stimmung hatte sich gedreht, er wirkte gereizt.
»Sie war auf der Bundesstraße 7 unterwegs, einer vollkommen geraden Straße durchs Isserstedter Holz, stadtauswärts Richtung Weimar. Hendrik, kennst du die Strecke?«
»Ja, kenne ich. Vor oder nach der Linkskurve?«
»Davor. Deutlich davor. Und keinerlei Bremsspuren. Absolut nichts. Ich hab davon in der Zeitung gelesen. Hab dann meinen jungen Kollegen – na ja, Ex-Kollegen – Kommissar Täntzer angerufen. Er ist manchmal ganz froh, Tipps von mir zu bekommen. Auch er ist skeptisch. Wilhelmine Becker, so hieß die Frau, fuhr einfach gegen einen Baum, ohne erkennbaren Grund. Andererseits konnte nichts gefunden werden, was für Fremdeinwirkung spricht.«
»Na, siehst du, Siggi, das sind doch völlig unterschiedliche Sachverhalte. Ihr habt da einen Verkehrsunfall und ich zwei Morde!«
»Wie bitte?«, rief Hendrik entsetzt.
Die Leute auf dem Oberdeck drehten sich nach ihnen um, am Südufer glitt die Niederräder Maininsel mit dem Licht- und Luftbad vorüber.
Richard sah ihn gequält an. »Das wollte ich dir sowieso noch sagen. Ich konnte den Oberstaatsanwalt überzeugen, einer Obduktion zuzustimmen. Dr. Bergen von der Rechtsmedizin in Gießen hat sich bereit erklärt, sie zu übernehmen.«
»Aha, gut gemacht!«
»Und der Rechtsmediziner hat heute beide obduziert.« Richard fasste das Obduktionsergebnis von Marianne Schmidt mit wenigen Sätzen zusammen.
»Ein Genickschuss?« Plötzlich fror Hendrik trotz der Hitze. »Und das hat man von außen nicht erkennen können?«
»Ich habe mich auch gewundert. Aber nein, es gab keine äußerlichen Anzeichen. Der Schuss war so angesetzt worden, dass die Einschussöffnung vom dichten Haaransatz verdeckt war und das Projektil aus dem Mund austrat. Der Arzt vor Ort hatte natürlich