Bernd Köstering

Goetheherz


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Sie musste sich offensichtlich erst wieder ans Leben gewöhnen, ans Lebendigsein, an innere und äußere Freiheit. Das verstand Hendrik. Auch wenn er zu gern wissen wollte, was in ihrem Kopf vorging, was sie dachte, was sie fühlte. Und die wichtigste Frage stand bislang aus: War ihr Verhältnis so innig wie zuvor? Einfacher ausgedrückt: Liebte sie ihn noch? Hendrik wollte das nicht in direkte Worte fassen, er war überzeugt, dass er es in den nächsten Tagen spüren würde.

      Der Professor hatte ihn ermahnt, sehr vorsichtig mit Hanna umzugehen. Jeder reagiere anders auf solch eine lange Zeit des Unbewusstseins. Manche Menschen seien sofort wieder da, wollten feiern, essen und trinken, andere müssten sich erst finden und wollten zunächst nichts zu sich nehmen, um all die Ereignisse – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verdauen. Diese Phase könne Tage dauern, manchmal Wochen. Hendrik hatte ihm klarzumachen versucht, dass er sich verantwortlich fühle für Hanna, auch für die Vorgänge, die dazu geführt hatten, dass sie in den langen Schlaf gefallen war. Und er wolle das wieder gutmachen. Daraufhin hatte ihn der Professor ernst angesehen und gemeint, dass es jetzt nur um seine Frau ginge, nicht um ihn und seine Schuldgefühle. Die müsse er später aufarbeiten. Und übrigens, er solle ihr Hühnersuppe kochen.

      Hendrik hatte sich für den Rest der Woche Urlaub genommen. Das war nicht einfach gewesen, da sie sich kurz vor dem Beginn der Vorlesungszeit befanden, da gab es viel zu tun. Aber als er der Dekanin den Hintergrund erläuterte, stimmte sie sofort zu. Er musste viel organisieren, Besprechungen und Seminare verlegen oder Ersatzdozenten finden. Almuth Feller half ihm dabei. Hendrik nutzte die Gelegenheit, sie um einen Gefallen zu bitten, verbunden mit dem Hinweis, die Angelegenheit möglichst diskret zu behandeln. Sie hatte ihm verschwörerisch zugezwinkert und gemeint, das ginge klar. Sie habe gute Verbindungen nach Gießen, er solle ihr einfach die Telefonnummer des ermittelnden Beamten geben, damit sie diese weiterleiten könne. Gesagt, getan.

      Er ging in die Küche, schaltete das Radio an, räumte die Spülmaschine ein und erledigte ein paar alltägliche Handgriffe.

      Als er eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Hanna im Sessel eingeschlafen. Er hielt sein Ohr nahe an ihren Mund. Sie atmete tief und gleichmäßig. Alles in Ordnung, dachte er und deckte vorsichtig ihre Beine zu. Dann setzte er sich auf die Couch und versuchte, die Zeitung zu lesen. Schnell merkte er, dass er zwar die Buchstaben verfolgte, aber die Bedeutung der Worte nicht aufnahm. Die einzige Meldung, die zu ihm durchdrang, war die Nachricht über den Suizid einer jungen Frau in Wetzlar. Er faltete die Blätter zusammen und legte sie beiseite.

      Hendriks Gedanken schweiften zu Elisabeth Müller. Solange Hanna schlief, konnte er nachsehen, was die Medien dazu schrieben. Er ließ einen Espresso durchlaufen, nahm ihn mit ins Arbeitszimmer und fuhr den Rechner hoch.

      Die Offenbach-Post berichtete von der 68-jährigen Elisabeth M. aus Bürgel, die am Sonntag gegen 11.20 Uhr von ihrer Tochter Sonja M. tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war. Die junge Frau war aus Mühlheim herübergekommen, um ihre Mutter zum Mittagessen abzuholen, und sagte aus, dass Elisabeth M. schon länger an einer Herzschwäche, einer sogenannten Herzinsuffizienz, gelitten habe. Sie habe ihr mehrmals geraten, eine Herzkatheteruntersuchung vornehmen zu lassen, aber die alte Dame habe sich nicht dazu durchringen können.

      »Sie haben Post!« Ein dicker gelber Balken erschien auf seinem Monitor und verschwand kurz darauf wieder. Die Neugier und der zeitgemäße Zwang, immer auf dem aktuellen Stand der Nachrichtenlage sein zu müssen, bewegten ihn dazu, seinen E-Mail-Eingang zu öffnen.

      Sehr geehrter Herr Dr. Wilmut,

      Sie haben über die Website www.dealer.by einen illegalen Download des Songs »Spanish Harlem« getätigt und sind uns dafür den Betrag von 5 Euro schuldig. Hinzukommt eine Strafgebühr von 400 Euro, zusammen 405 Euro. Ort: Trient, Hotel Albergo della Rosa. Zeit: Dienstag 9. September um 6.14 Uhr. Falls Sie nicht bis zum 12. Oktober den Betrag auf das unten aufgeführte Konto überweisen, müssen wir unser Inkassounternehmen beauftragen, Sie zu liquidieren. Antworten Sie uns umgehend, ob Sie bereit sind, die Zahlung zu leisten. Es hat keinen Sinn, die Polizei einzuschalten, unser Server steht in Weißrussland und ist von Deutschland aus nicht zu identifizieren.

      Mit freundlichen Grüßen

      Ihr Nikolaj Mestroff

      Hendrik gingen tausend Gedanken durch den Kopf und ebenso viele Gefühle wühlten ihn auf. Wut, Entrüstung, Selbstzweifel, Verunsicherung. Er sah nach dem Absender der E-Mail: [email protected]. Der selbsternannte belarussische Rechtsminister – lachhaft! Natürlich hatte Hendrik dieses Lied nie heruntergeladen. Oder hatte er es aus Versehen doch angeklickt? So etwas konnte bei all den Spam-Mails schon mal passieren. Aber sicher nicht von einem Hotelcomputer aus. Er hatte in Trient ja sein eigenes Tablet dabeigehabt. Und wenn, dann hätte er sicher nicht um 6.14 Uhr morgens im Internet gesurft. Da schlief er in aller Regel. Der Gedanke beruhigte ihn, sein Inneres fuhr auf Normalmodus herunter. Dennoch … es blitzte erneut durch seinen Kopf: Er war tatsächlich in Trient gewesen an diesem Tag. Mit seinem Taxifahrerfreund Eddie. In einem Hotel. Woher wusste dieser Mestroff das? Nicht zu fassen! Seine Gefühlswelt verdichtete sich zu Zorn und Abscheu. Egal, er würde nicht antworten, das war klar, dabei konnte man sich nur einen Virus einhandeln, und er würde erst recht nicht 405 Euro zahlen. Hendrik blockierte den Absender und löschte die E-Mail sowohl aus seiner Inbox als auch aus seinem Papierkorb.

      Zurück zur Onlineseite der Offenbach-Post: Dem Artikel über Elisabeth M. war ein Textkasten beigefügt, in dem ältere Patienten ermahnt wurden, wichtige Herzuntersuchungen nicht auf die lange Bank zu schieben. Dazu die Telefonnummer eines Herzspezialisten.

      Hendrik überlegte: Eine ältere Dame starb, 68 Jahre, kein hohes Alter, aber bei der von der Tochter genannten Vorerkrankung nicht ungewöhnlich. Dennoch, etwas störte ihn. Wie so oft konnte Hendrik nicht sagen, was es war. Er wusste jedenfalls, dass dieses »Etwas« existierte und ihn noch beschäftigen würde.

      Schweren Herzens schrieb er Siggi und Richard eine ausführliche E-Mail, in der er erklärte, dass es keinen Sinn mache, Hanna derzeit zu besuchen. Er fuhr den Rechner herunter und ging ins Wohnzimmer.

      Seine Liebste stand auf dem Balkon und starrte hinunter in den kleinen Park. Sie sah schmal aus. Ihre blonden Haare fielen wirr durcheinander. Für Hanna, die sonst immer viel Wert auf ihre Frisur gelegt hatte, war das sehr ungewöhnlich.

      Er öffnete die Balkontür einen Spalt breit. »Hallo, Hanna, soll ich dir etwas zu essen machen?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      Trotzdem wärmte er die Hühnersuppe auf.

      *

      Marianne Schmidt

      Frankfurt a. M., Donnerstag, den 9. Oktober, nachmittags

      Obwohl der anwesende Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt hatte, war das K 11 hinzugezogen worden. Das waren Routineabläufe der Polizeiarbeit. Kriminalhauptkommissar Richard Volk verließ gegen 14 Uhr an diesem Donnerstag den Aufzug des Mietshauses im Goldbergweg und betrat die Wohnung der Toten im dritten Stock. Sein junger Kollege Kriminalkommissar Pascal Simon empfing ihn. Er war lässig gekleidet und trug eine rote Mütze.

      »Tag, Herr Volk. Der Arzt ist noch da, er wird wohl gleich fertig sein. Die Tote heißt Marianne Schmidt, 62 Jahre alt, wohnte allein, keiner im Haus kannte sie, außer einer Nachbarin hier nebenan auf dem Flur. Der Briefkasten von Frau Schmidt ist leer, ihr Papierkorb ebenso. Sie hat keine weiteren Verwandten.«

      »Wie lange sind Sie schon vor Ort?«

      »Etwa ’ne halbe Stunde.«

      »Und in dieser Zeit haben Sie das alles herausbekommen?«

      »Äh, ja.«

      »Gut, Pascal, das haben Sie gut gemacht!«

      Sein Mitarbeiter grinste.

      Der Kriminalhauptkommissar nickte dem Arzt zu und blieb vor der Leiche stehen. Der Anblick von Toten bereitete ihm nach all den Jahren keine Schwierigkeiten mehr. Frau Schmidt lag rücklings auf dem Wohnzimmerteppich und sah hinauf zur Zimmerdecke. Sie hatte einen entspannten, fast zufriedenen Gesichtsausdruck. Für Richard Volk war das gleichbedeutend mit einem schnellen Tod, bei dem sie nicht