Bernd Köstering

Goetheherz


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Vorwurf mache und sie nur wissen wollten, woher die Einstichstelle am Oberschenkel stamme. Dr. Rosennadel rief die elektronische Patientenakte von Elisabeth Constanze Müller auf. Er habe ihr nichts injiziert und er könne sich nicht vorstellen, dass Frau Müller einen anderen Arzt konsultiert habe, denn es bestehe ein jahrelanges Vertrauensverhältnis zwischen ihm und der Patientin sowie deren Familie. Ein Dahinscheiden aufgrund von Altersschwäche schloss er kategorisch aus. Dann berichtete Richard von der Autopsie und dass Dr. Bergen keine Hinweise auf die Todesursache gefunden habe. Der Doktor überlegte einen Moment und sah noch einmal auf seinen Bildschirm. Anschließend blickte er Richard Volk bedeutungsvoll an. Es sei möglich, meinte er, dass man ihr eine Überdosis Insulin injiziert habe. Der Oberschenkel sei eine bevorzugte Stelle für den Einstich einer Insulinspritze oder eines Insulinpens. Nach etwa acht Stunden sei das Insulin nicht mehr nachweisbar, weil es vom Körper verstoffwechselt werde. Deswegen habe der Kollege bei der Leichenschau gar nichts finden können. »Das ist aber nur eine Hypothese«, fügte er hinzu.

      Als Richard Volk und Pascal Simon wieder im Auto saßen, dachten beide eine Weile nach, still und sprachlos. Nach einiger Zeit nickte Simon seinem Chef zu und der nickte zurück. Immerhin eine mögliche Todesursache. Die Sache verdichtete sich.

      *

      Blutanalyse

      Weimar, Montag, den 13. Oktober, mittags

      Siegfried Dorst klopfte.

      »Herein!«

      »Guten Tag, Wolfgang!«

      »Hallo, Siggi, komm rein. Was machst du denn bei mir im Labor?«

      »Ich dachte, hier können wir besser reden als auf dem Tennisplatz.«

      »Hört sich ja geheimnisvoll an.«

      »Ist es auch. Du hast vor Kurzem die Blutprobe einer verstorbenen Frau erhalten, Wilhelmine Gertrude Becker.«

      »Kann sein«, antwortete er und notierte sich den Namen. »Ich habe natürlich nicht alle Patientennamen im Kopf, um was geht es denn?«

      »Mein spezieller Freund Germer hat für die Untersuchung nur Blutalkohol und Drogen freigegeben. Wir brauchen aber noch die Analyse auf Benzodiazepine und Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken, Antihistaminika und so was. Ist wichtig, es könnte nämlich sein, dass sie nicht einfach so gegen einen Baum gefahren ist, sondern vorher betäubt wurde.«

      Wolfgang hob die Augenbrauen. »Oha.« Er schien beeindruckt. »Habt ihr schon ihren Hausarzt befragt?«

      »Täntzer ist dran.«

      »Okay, pass auf. Vorschlag: Das mit den Medikamenten überlasst ihr tatsächlich dem Hausarzt, denn da müsste ich nach zu vielen Grundstoffen suchen, das geht nicht mal so eben zwischendurch. Außerdem werden die nur selten für kriminelle Zwecke benutzt. Ich prüfe auf zwei Benzodiazepine, nämlich Flunitrazepam und Temazepam. Sicherheitshalber außerdem Chloralhydrat, das wurde früher benutzt, kommt ab und zu noch aus dem Balkan rüber. Und natürlich GHB und GBL.«

      »Liquid Ecstasy?«

      »Genau.«

      »Super, Wolfgang, so machen wir es. Ich habe dir ein kleines Dankeschön mitgebracht.« Mit diesen Worten zog Siggi eine Flasche Wein unter seiner Jacke hervor.

      »Die hast du aber gut versteckt!«, sagte Wolfgang und lachte.

      »Stimmt. Das ist meine letzte Flasche Elbling vom Weinberg in Kromsdorf, du weißt, der gehörte dem Prinzen zu Lippe. Er musste aufgeben.«

      »Ja, ich hab davon gehört.« Wolfgang nahm die Weinflasche entgegen. »Wow, ein seltenes Stück, vielen Dank! Sieht ja fast nach Bestechung aus.«

      »Ist es eigentlich auch. Aber für einen guten Zweck.«

      »Das stimmt. Übrigens, Siggi: Falls es einen positiven Befund geben sollte, wie wollt ihr das dem Herrn Kriminaldirektor verkaufen?«

      »In diesem Fall schickst du bitte einen offiziellen Bericht an Täntzer und schreibst dazu, dass du die zusätzlichen Parameter ›aus Versehen‹ bestimmt hast und ob er zufällig etwas damit anfangen könne.«

      Wolfgang lachte. »Okay, mache ich!«

      Dann öffnete er seine Schreibtischschublade, legte den Elbling hinein und begleitete Siggi zur Tür. Er sah auf die Uhr. »Es ist jetzt Viertel nach drei. Ich werde die Analyse heute Abend selbst durchführen. Spätestens bis Mitternacht hast du das Ergebnis.«

      »Danke!«, sagte Siggi. »Sehen wir uns am Donnerstag auf dem Tennisplatz?«

      »Selbstverständlich!«

      *

      Herzdamen

      Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, mittags

      Hendrik Wilmut war zufrieden. Zwar hatte er am Vorabend nur kurz in sein Vorlesungsskript geschaut – zu schön war der gemütliche Sonntag mit Hanna gewesen –, aber solche Unzulänglichkeiten glich er mit seiner jahrelangen Routine aus. Während der Mittagspause saß er neben der Nymphe im Innenhof des Poelzig-Baus in der Sonne und freute sich über Hannas kleine Fortschritte. Die Sache mit Lotte in Wetzlar war wohl nur Einbildung gewesen, und er beschloss, seinen Verdacht in den geistigen Mülleimer zu werfen.

      Bevor die nächste Vorlesung begann, wollte Hendrik noch seine E-Mails durchsehen. Er ging dazu in die Rotunde, den halbkreisförmigen Teil des Foyers, in dem General Eisenhower nach Kriegsende sein Büro eingerichtet hatte. Hier war das Display des Tablets besser zu erkennen als in der prallen Sonne. Er zuckte zusammen:

      Sehr geehrter Herr Dr. Wilmut,

      Sie haben über die Website www.dealer.by einen illegalen Download des Songs »Spanish Harlem« getätigt und sind uns dafür den Betrag von 5 Euro schuldig. Hinzukommt eine Strafgebühr von 400 Euro, zusammen 405 Euro. Ort: Trient, Hotel Albergo della Rosa. Zeit: Dienstag, 9. September um 6.14 Uhr. Da Sie den vereinbarten Termin (12. Oktober) nicht eingehalten haben, müssen wir leider unser Inkassounternehmen beauftragen, Sie zu liquidieren. Es hat keinen Sinn, die Polizei einzuschalten, unser Server steht in Weißrussland und ist von Deutschland aus nicht zu identifizieren.

      Mit freundlichen Grüßen

      Ihr Nikolaj Mestroff

      Hendrik sah sich um. Überall Studenten. Sollte einer von ihnen …? Nein, unmöglich. Der »vereinbarte Termin« – welche Unverschämtheit! Gestern war der 12. Oktober, da war die einseitig gesetzte Frist abgelaufen. Und dann dieser Ausdruck: liquidieren! War das Wort in Anbetracht der Doppeldeutigkeit absichtlich gewählt worden oder war es ein Versehen aus Unkenntnis der deutschen Sprache? Hendrik bezweifelte inzwischen, dass hier irgendetwas zufällig passierte. Langsam, aber sicher breitete sich Angst in seinem Inneren aus. Er war kein übermäßig angstbesetzter Typ. Als kleiner Junge vielleicht schon, seit einer Schlägerei in der Jugendzeit jedoch nicht mehr. Damals hatte er trotz seiner schmächtigen Gestalt einen wesentlich kräftigeren Angreifer, den Anführer einer dumpfen Jugendgang, mittels Beweglichkeit und intelligenter Kampfführung abwehren können. Doch dies hier war etwas anderes, eine undurchsichtige, hinterhältige Schlacht aus der Ferne, eine elektronische Guerillataktik. Die Absenderadresse war dieselbe wie zuvor: der weißrussische Rechtsminister. Warum war diese Nachricht überhaupt zu ihm durchgedrungen? Er hatte doch den Absender blockiert … oder? Mit Wucht schoss eine Erkenntnis in sein Bewusstsein, die ihm kurzfristig die Luft nahm: Die Absenderblockade hatte er in seinem privaten E-Mail-Account eingerichtet, jetzt war er gerade in seinem dienstlichen Account über das Netzwerk der Universität eingeloggt. Der Kerl, dieser Mestroff, der wusste, wo Hendrik arbeitete! Sein Magen verkrampfte sich. Im selben Moment erklang das vertraute Rufsignal seines Mobiltelefons. Im Display erschien »Hanna«. Er nahm ab. Rascheln, seltsame Geräusche, keine Stimme.

      »Hanna?«

      Keine Antwort.

      »Hanna!«

      »Ja, Hendrik, hallo …« Ihre Stimme klang unsicher. »Hilf mir bitte!«

      Sein Herz schlug hinauf bis in die letzte Hirnwindung. Er schoss hoch. »Was ist los?