sich Hendriks Innenleben. Er hätte den Tod von Friederike Meyer nicht verhindern können, nicht am Montag letzter Woche, dem Tag, an dem er abends mit Richard beim Patron gespeist hatte. Trotzdem ließ sich das Chaos der Selbstvorwürfe in seinem Innern nicht entwirren.
»Übrigens, Hendrik. Der Anruf gestern während unseres Mittagessens, das war Sonja Müller.«
»Die Tochter von Elisabeth Müller?« Das war ihm inzwischen wieder eingefallen. Sonja M. – so hatte es im Zeitungsbericht gestanden.
»Genau. Beim Aufräumen der Wohnung ihrer Mutter hat sie eine kleine Patrone gefunden, die hing zwischen Bett und Wand. Ich habe meine Kollegen von der KTU schon zusammengestaucht, hätten sie eigentlich finden müssen. Na ja, zum Glück war die Tochter aufmerksam.«
»Was für eine Patrone?«
»Moverapid Penfill. Das ist die Nachfüllpatrone für einen Insulinpen, eine Applikationshilfe für Diabetiker. Moverapid ist ein kurzfristig wirkendes Insulin.«
»Verstehe. Ich muss klären, ob ich Hanna am Samstag allein lassen kann, dann sage ich dir Bescheid.«
»Okay. Pass auf, es wäre wichtig, dass du mitkommst. Wir müssen den Verdacht auf eine Mordserie eindeutig klären. Vielleicht kann deine Mutter so lange bei Hanna bleiben. Was meinst du?«
»Sie war gestern erst da. Außerdem hat Mutter gerade einen Rheumaschub, sie kann sich kaum bewegen.«
»Oder umgekehrt, Hanna bei deiner Mutter?«
»Ich versuche es!«, brummte Hendrik.
*
Durch die Wand
Gießen, Samstag, den 18.Oktober, vormittags
Richard Volk und Pascal Simon holten Hendrik bei Hedda Wilmut im Offenbacher Hafenviertel ab und fuhren von dort über den Kaiserleikreisel direkt auf die A 661 in Richtung Norden. Simon saß am Steuer, Hendrik und Richard auf der Rückbank, sodass sie sich bequem unterhalten konnten.
»Hanna geht es besser«, berichtete Hendrik. »Ich passe auf, dass sie genug Flüssigkeit zu sich nimmt, egal in welcher Form. Seit sie zurück ist, hatte ich schon drei Hühner im Kochtopf.« Sie lachten und Hendrik merkte, dass es guttat. »Sie ist jetzt bei meiner Mutter. War eine gute Idee von dir!«
»Hm«, antwortete Richard. »Schön, wenn man noch eine Mutter hat, die einem helfen kann. Und helfen will.«
Hendrik sah aus dem Fenster und dachte nach. Die Felder der Wetterau zogen an ihnen vorbei. Der Sonnenschein wurde immer wieder von Wolken unterbrochen, die riesige Schattenrisse auf die Stoppelfelder warfen. Ja, jedem Menschen wurden Schatten in sein Leben geworfen. Hendrik wusste, dass Richards Eltern bereits tot waren, von den Hintergründen ahnte er nichts. Er schrieb auf seinen inneren Notizzettel, Richard bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. Die Umstände mussten passen für solch ein Gespräch, und keine dritte Person sollte dabei sein.
»Was ist denn mit der Frau aus Straßburg? Woher wisst ihr überhaupt von ihr?«, fragte Hendrik.
»Mein junger Kollege hier«, Richard zeigte auf Pascal Simon, »beherrscht die französische Sprache sehr gut. Sein Großvater stammt aus Toulouse. Ich habe ihn gebeten, mit der Police national in Straßburg Kontakt aufzunehmen. Und tatsächlich haben die dort einen ungelösten Mordfall. Friederike Meyer, 52 Jahre alt. Sie wurde in einem Hafenbecken gefunden. Pascal hat den Bericht der französischen Kollegen bekommen, er wird uns nachher alles erläutern.«
»Okay. Und wer ist bei der Besprechung heute dabei? Ich meine, außer uns?«
»Die Gastgeberin, Kriminaloberkommissarin Sandra Prager, ihr Chef wahrscheinlich nicht, er ist auf einer Hochzeit eingeladen, und dann aus Weimar Kommissar Täntzer und Siggi, das war’s.«
»Hm, reicht ja auch. Und was ist meine Aufgabe dabei?«
»Du bist der Experte, quasi eine Art Vor-Gutachter, der erklären soll, wie die Morde zusammenhängen könnten. Dabei habe ich zwei Bitten an dich.« Richard zögerte.
»Ja?«
»Erstens solltest du bitte nicht sagen, dass die Idee, zwischen den Morden könnte eine Verbindung bestehen, von dir stammt. Das würde der Glaubwürdigkeit der Theorie schaden. Also … bitte nicht falsch verstehen, aber dieser Ansatz muss von einem Polizisten kommen.«
»Okay, von wem? Von Siggi?«
»Nein, von mir. Es muss ein im Dienst befindlicher Polizeibeamter sein.«
Hendrik nickte. »Gut. Und zweitens?«
»Bitte sprich, wenn es um eine mögliche Serientat geht, immer im Konjunktiv. Könnte sein … eventuell … es ist anzunehmen, dass … und so weiter. Jeder unbewiesene Zusammenhang muss bei der Polizei als Szenario gelten. Wir müssen unbedingt Hypothesen von Fakten unterscheiden, selbst wenn einer von uns maximal von seiner Hypothese überzeugt ist. So ist unsere Arbeitsweise. Verstehst du?«
»Klar, kein Problem.«
Richard schien zufrieden zu sein. Simon bog am Gambacher Kreuz auf die A 45 ab.
»Richard, wie ist das eigentlich, glaubst du an meine Theorie oder nicht?«
»Ehrlich?«
»Ja, bitte.«
»Nein, ich glaube nicht daran. Trotzdem möchte ich dir die Gelegenheit geben, deine Meinung kundzutun, für deine Überzeugung einzutreten. In guter alter Voltaire-Tradition.«
Hendrik war erstaunt, dass Richard dieses Zitat zur Meinungsfreiheit heranzog, denn bisher hatte er sich nicht als Literaturkenner gezeigt. »Ich lehne ab, was du sagst, aber ich werde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es sagen zu dürfen.« So lautete der Satz, der Voltaire zugeschrieben wurde. Immerhin, das war eine vernünftige Grundlage für die kommende Diskussion.
Hendrik beugte sich zu seinem Freund hinüber. »Hör mal, Richard«, flüsterte er. »Hat Pascal Simon eigentlich immer diese komische rote Mütze auf?«
Richard grinste. »Immer! Sie wärmt seinen Kopf und dann kann er besser nachdenken.«
Sie verließen den Gießener Ring an der Ausfahrt Schiffenberger Weg und bogen kurze Zeit später links ab in die Ferniestraße. Hendrik war guten Mutes, denn er wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was ihn an diesem Tag erwartete.
Kriminaloberkommissarin Prager war eine sportliche Mittvierzigerin mit einer blonden Kurzhaarfrisur. Extrem kurz, wie Hendrik bemerkte. Sie verhielt sich sehr höflich, dennoch merkte er, dass ihrem Auftreten eine Bestimmtheit innewohnte, die wenig Widerspruch duldete. Sie holte die drei am Empfang ab, und Hendrik konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass zwischen ihr und Richard eine gewisse Spannung lag. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
»Ich habe eine kleine Überraschung für euch«, sagte sie, während sie vorausging. »Julian Täntzer hat seinen Chef mitgebracht, besser gesagt, sein Chef hat es für nötig gehalten, ihn zu begleiten. Kriminaldirektor Germer.«
Im ersten Stock angekommen, öffnete sie die Tür zum Konferenzzimmer. Bevor Hendrik überhaupt erfasst hatte, wer alles anwesend war, wies Sandra Prager ihm einen Stuhl zu und rief in den Raum: »Ich denke, wir nehmen alle Platz zur Vorstellungsrunde und legen danach gleich los. Wir wollen ja an einem Samstag keine Zeit verschwenden.«
Hendrik schaffte es soeben noch, Siggi zuzuwinken, dann saß er schon zwischen Richard und einem ihm unbekannten jungen Mann mit blassem Gesicht.
»Ich bin KOK Sandra Prager, seit 18 Jahren im Polizeidienst. Ich wurde gebeten, heute als Gastgeberin zu fungieren, damit die Reisekosten einigermaßen gleichmäßig auf die Präsidien verteilt werden. Wenn keine Einwände bestehen, übernehme ich auch die Sitzungskoordination.«
Hendrik registrierte mit der ihm eigenen Art der sprachlichen Analytik, dass sie »Sitzungskoordination« gesagt hatte und nicht »Sitzungsleitung«. In Anbetracht der Tatsache, dass ranghöhere Kollegen am Tisch saßen, schien das sehr umsichtig.
Sandra Prager wandte sich nach rechts.