ich aus einem üblen Traum erwacht. Ich sagte ihnen, sie müssten sofort den Notruf wählen.«
»Ihre Tochter Samira sagte aus, sie hätten Sie regelrecht von Ihrem Mann wegzerren müssen.«
»Ich war nicht ich selbst. Sie musste mich ohrfeigen, damit ich zur Besinnung kam. Erst da realisierte ich, was geschehen war.«
»Was wäre passiert, wenn Ihre Töchter nicht hereingestürmt wären?«
»Ich hoffe, dass nichts Schlimmes passiert wäre. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Ich sehe ein, dass das nicht gut war. Aber ich stand unter einer enormen seelischen Belastung. Ich wollte ihn nicht töten. Ich bin unschuldig. Das hier ist ein einziger, riesiger Irrtum.«
*
Rudolf Wohlgemuth, Richter
Ich habe es ja geahnt. Zwei Parteien, zwei verschiedene Wahrheiten, und ich musste es wieder einmal richten. Jeder hat ein Urteil zu seinen Gunsten erwartet, und keiner wird am Schluss zufrieden sein.
Miranda Büttikofer ist eine kleine, energische Frau. Rundes Gesicht, schwarze zähe Locken, ihr Pferdeschwanz gleicht einem Reisigbesen. Ihre Augen sind lauernd und anklagend, kleine, dunkle Stecknadeln. Sie ist etwas stämmig, untersetzt, sie wirkt vorlaut, spricht so, als würde sie der ganzen Welt einen Vorwurf machen für alles, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist. Nur sie selbst trägt keine Schuld. Mehrmals ist sie mir ins Wort gefallen, es half kein Zurechtweisen.
Robert Büttikofer ist einen Kopf größer als sie, gräuliches Haar, der Hals zu kurz geraten, als würde er pausenlos die Schultern hochziehen. Seine Mimik ist grimmig, die Augen wirken leblos, als wäre ihm alle Freude verloren gegangen, falls sie überhaupt jemals in seinem Leben existiert hat. Er sieht aus, als könnte er jede gute Laune im Bruchteil einer Sekunde vertreiben.
Nicht, dass ich damit sagen will, dass ich mich von dem Äußeren und der Art der beiden habe beeinflussen lassen, bewahre. Ich will damit nur deutlich machen: Sie wirkt nicht wie eine hilflose, zerbrechliche Person, die sich nicht wehren kann. Er wirkt nicht wie ein naiver, verschupfter Ehemann, der vor seiner Frau kuscht.
Um es kurz zu machen: Ich glaube ihr nicht. Das mag jetzt hart klingen, es ist aber so. Ich nehme ihr nicht ab, dass sie ihren Mann nicht töten wollte. Nur zwei Tage vor der Tat hat sie sich von ihrer Ärztin die Tabletten verschreiben lassen. Ich bin gegen Zufälle. Die Dosis war massiv, damit will man niemanden zum Schlafen bringen, damit will man jemanden um die Ecke bringen. Ihr Mann muss am nächsten Morgen völlig belämmert gewesen sein. Undenkbar, dass er sie in diesem Zustand angegriffen hat. Und selbst wenn: Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand in Notwehr von hinten erwürgt worden ist. Darum glaube ich ihr nicht.
Nun, auch ihm glaube ich nicht. Zumindest nicht alles. Aber die Vergewaltigungen können ihm nicht nachgewiesen werden. In diesem Anklagepunkt gibt es einzig die Anschuldigungen seiner Frau und die etwas krude Aussage der gemeinsamen Tochter. Andere Indizien sprechen dagegen. Für einen Schuldspruch genügt das nicht. Zu dünn.
Also habe ich Miranda Büttikofer zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren verurteilt. Sie hat versucht, ihren untreuen Mann erst zu vergiften und dann zu erdrosseln, weil sie eifersüchtig auf ihre Nebenbuhlerin war und das Vermögen der Familie sichern wollte. Ihren Mann Robert Büttikofer habe ich im Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« vom Vorwurf der Vergewaltigung und sexueller Nötigung freigesprochen. Was aber nicht heißt, dass ich ausschließe, dass er es getan hat.
Miranda Büttikofer ist nach dem Verdikt zusammengebrochen, wir mussten die Ambulanz aufbieten. Die jüngste Tochter Samira, die mit ihren Geschwistern den Prozess mitverfolgt hatte, hat laut aufgeschrien und wollte auf mich losgehen. Wir mussten den Sicherheitsdienst alarmieren. Das hat mich alles nicht beeindruckt. So habe ich geurteilt und begründet. Dies ist im Sinne des Gesetzes das beste und gerechteste Urteil, zu dem ich in diesem Fall kommen konnte. Ich ziehe den Schlussstrich und gehe mit einem guten Gewissen ins Bett.
Mein Wecker blökt. Es ist sechs Uhr früh, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Auch heute hätte er getrost schweigen können, denn ich liege schon seit Stunden wach. Dieser Fall … Erneut hat er mir den Schlaf geraubt. Das mit dem Schlussstrich hat nicht funktioniert. Die Sache rumort noch immer in meinem Kopf herum, etwas stört mich, aber ich komme einfach nicht darauf, was es ist.
Ich muss das zur Seite legen, muss mich auf den neuen Fall konzentrieren, der heute auf mich wartet; ein Mann wird von seiner Exfrau beschuldigt, sich an ihrer Deutschen Dogge sexuell vergangen zu haben. Das wird wieder ein Theater geben.
Aufstehen, frühstücken, rasieren, noch einmal die Anklageschrift durchgehen, schon bin ich wieder unterwegs zum Gericht. Ich gehe immer zu Fuß. Mein Arbeitsweg ist ein Spaziergang durch Berns Lauben, während die Altstadt erwacht. Dieser Moment der Ruhe tut mir gut, bevor sich neue menschliche Abgründe vor mir auftun.
Beim großen Brunnen in der Gerechtigkeitsgasse wechsle ich die Straßenseite, über mir auf dem Sockel steht die Statue der Justitia, die Augen verbunden, die Waage in der einen Hand. »Guten Morgen«, sage ich laut zu ihr, auch das ein Ritual. Sie antwortet mir nie.
So war das zumindest bis heute.
»Sie Arschloch!«, brüllt mir in dem Moment eine Frauenstimme entgegen.
Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Ich fahre zusammen und blicke erschrocken zu Justitia hoch.
»Sie haben die falsche Person verurteilt!«
Erst jetzt realisiere ich, dass nicht Justitia schreit, sondern eine junge Frau, die hinter dem Brunnentrog hervorspringt. Sie kommt mir bekannt vor.
»Mein Vater war ein Scheusal, er hat uns jahrelang gequält. Nicht meine Mutter, mein Vater sollte hinter Gittern sitzen.«
Samira. Die jüngste Tochter. Die gestern im Gerichtssaal auf mich losgehen wollte. Ich schaue mich um, ob ich jemanden zu Hilfe rufen kann. Doch da ist niemand, und auf Justitia kann ich nicht zählen.
»Beruhigen Sie sich«, sage ich zu der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Sie steht jetzt direkt vor mir und kommt mir zu nah, ich weiche zurück, stolpere um ein Haar.
»Und wenn, dann nicht meine Mutter, sondern ich! Ich habe ihm die Tabletten in den Drink getan, ich wollte ihn erwürgen! Und ich hätte es zu Ende gebracht, wenn meine Schwester und meine Mutter mich nicht zurückgehalten hätten.«
Sie will mich schubsen. Ich weiche aus. Mein Instinkt befiehlt mir, wegzurennen, doch etwas hält mich zurück. Was, wenn sie die Wahrheit spricht?
»Warum sagen Sie das erst jetzt, erst hier, wieso haben Sie das nicht früher gestanden?«
»Ich musste meiner Mutter versprechen, es niemandem zu sagen. Sie will die Strafe für mich tragen, damit mein Leben nicht zerstört ist. Das hier ist kein Geständnis, das werden Sie nie kriegen. Ich will nur, dass Sie eins wissen: Sie haben falsch geurteilt. Sie sind ein schlechter Richter.«
Sie speit mir die Worte ins Gesicht, stößt mich mit beiden Händen gegen die Brust, ich rudere mit den Armen, verliere das Gleichgewicht, stürze, bin am Boden, reiße die Hände vors Gesicht, doch der Schlag folgt nicht, sie dreht sich um und rennt davon, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.
Verblüfft bleibe ich zurück. Ich stehe auf und klopfe meinen Anzug ab, blicke zu Justitia hoch und kann mir ein Ächzen nicht verkneifen. Die Glocken der Nydeggkirche schlagen die Viertelstunde. Ich muss weiter. Die nächste Verhandlung beginnt gleich. Wieder muss ich ein Urteil finden.
Doch welches Urteil ist schon gerecht?
Erinnerungen einer Auftragskillerin an einem goldenen Herbsttag
am Lago Maggiore
Peter Beck
Der Lago Maggiore flimmerte und glitzerte wie die Diamanten auf dem samtenen Tuch in meinem Luganeser Banktresor. Auf der anderen Seite des Sees leuchtete der Monte Gambarogno in seinem Herbstkleid. Nach den heftigen Niederschlägen der letzten Tage war der Himmel heute wolkenlos, die Sicht klar. Hier war der Indian Summer auszuhalten.